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1984 (Kurt Wagenseil: Übers.)

1984 (Kurt Wagenseil: Übers.)

Titel: 1984 (Kurt Wagenseil: Übers.) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: George Orwell
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riesigen Maschinen und furchtbaren Waffen – mit einem Volk von Kriegern und Fanatikern, das völlig geschlossen voranmarschierte, alle mit den gleichen Gedanken und den gleichen Schlachtrufen, wo alle pausenlos arbeiteten, kämpften, siegten, verfolgten – dreihundert Millionen Menschen, alle mit den gleichen Gesichtern. Die Wirklichkeit aber waren zerfallende, heruntergekommene Städte, durch deren Straßen unterernährte Menschen in durchlöcherten Schuhen schlichen und in deren notdürftig ausgebesserten Häusern aus dem neunzehnten Jahrhundert wohnten, wo es immer nach Kohl und schadhaften Aborten roch. Ihm war, als sähe er eine Vision von London als einer riesigen Trümmerstadt, einer Stadt von Millionen Kehrichthaufen, und dahinter ein Bild von Frau Parsons, einer Frau mit durchfurchtem Gesicht und verwuschelten Haaren, die hilflos an einem verstopften Ausguß herumhantierte.
    Er bückte sich und kratzte wieder an seinem Knöchel. Tag und Nacht knatterte einem der Televisor die Ohren voll mit Statistiken, aus denen hervorging, daß die Menschen heutzutage mehr zu essen, mehr anzuziehen, bessere Wohnungen und eine bessere Freizeitgestaltung hatten – daß sie länger lebten und ihre Arbeitszeit kürzer war, daß sie größer, gesünder, kräftiger, glücklicher, klüger, gebildeter waren als die Menschen vor fünfzig Jahren. Kein Wort davon konnte je belegt oder widerlegt werden. Die Partei behauptete zum Beispiel, gegenwärtig könnten 40 Prozent der erwachsenen Proles lesen und schreiben: vor der Revolution, hieß es, habe die Zahl nur 15 Prozent betragen. Die Partei behauptete, die Kindersterblichkeit belaufe sich jetzt nur noch auf einhundertundsechzig pro Tausend, wählend sie vor der Revolution dreihundert betragen habe – und so ging es weiter. Es war ein ewiges Jonglieren mit zwei Unbekannten. Es konnte sehr gut möglich sein, daß buchstäblich jedes Wort in den Geschichtsbüchern, sogar das, was man unbedenklich hinnahm, frei erfunden war. Es brauchte ein Gesetz wie das jus primae noctis oder ein Wesen wie den Kapitalisten oder eine Kopfbedeckung wie den Zylinderhut nie gegeben zu haben.
    Alles löste sich in Nebel auf. Die Vergangenheit war ausradiert, und dann war sogar die Tatsache des Radierens vergessen, die Lüge war zur Wahrheit geworden. Nur einmal in seinem Leben hatte er – post factum , darauf kam es an – den greifbaren, unverkennbaren Beweis einer Fälschung gehabt. Er hatte ihn ganze dreißig Sekunden in seinen Händen gehalten. Es mußte im Jahre 1973 gewesen sein – jedenfalls war es um die Zeit herum, als er und Katherine sich getrennt hatten. Aber das Datum, worauf es dabei ankam, lag noch sieben oder acht Jahre weiter zurück.
    Die Geschichte begann eigentlich um die Mitte der sechziger Jahre, der Zeit der großen Säuberungsaktionen, in der die ursprünglichen Führer der Revolution ein für allemal beseitigt worden waren. Um das Jahr 1970 war keiner von ihnen mehr übrig, außer dem Großen Bruder selbst. Alle anderen waren inzwischen als Verräter und Konterrevolutionäre überführt worden. Goldstein war geflohen und hielt sich irgendwo verborgen, und von den anderen waren ein paar einfach verschwunden, während die Mehrzahl nach aufsehenerregenden Schauprozessen hingerichtet worden war, bei denen sie Geständnisse ihrer Verbrechen ablegten. Unter den letzten Überlebenden waren drei Männer namens Jones, Aaronson und Rutherford. Um das Jahr 1965 herum mußten auch diese drei verhaftet worden sein. Wie es häufig vorkam, blieben sie ein Jahr oder länger verschwunden, so daß man nicht wußte, ob sie überhaupt noch lebten, und waren dann plötzlich wieder aus der Versenkung hervorgeholt worden, um sich in der üblichen Weise selbst anzuschuldigen. Sie hatten sich des Einverständnisses mit dem Feind schuldig bekannt (auch damals war Eurasien der Feind), der Unterschlagung öffentlicher Gelder, des Mordes an verschiedenen alten Parteimitgliedern, einer Verschwörung gegen die Führerschaft des Großen Bruders, die lange vor Ausbruch der Revolution begonnen hatte, und endlich an Sabotagehandlungen, die den Tod von Hunderttausenden von Menschen herbeigeführt hatten. Nachdem sie sich dieser Dinge angeklagt hatten, waren sie begnadigt, wieder in die Partei aufgenommen und mit bedeutsam klingenden Posten betraut worden, die in Wahrheit nur Sinekuren waren. Alle drei hatten umfangreiche kriecherische Erklärungen in der Times veröffentlicht, in denen sie die Gründe für

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