1984
Leben seiner Mutter und seiner Schwester irgendwie für das seine geopfert worden war. Es war einer jener Träume, die in der charakteristischen Verkleidung des Traumes doch eine Fortsetzung des seelischen Erlebens sind und in denen einem Tatsachen und Gedanken zum Bewußtsein kommen, die auch nach dem Erwachen neu und wertvoll erscheinen. Die Erkenntnis, die Winston jetzt plötzlich dämmerte, war, daß der Tod seiner Mutter vor dreißig Jahren auf eine Weise traurig und tragisch gewesen war, die es heutzutage nicht mehr gab. Tragik, erkannte er, gehörte einer vergangenen Zeit an, als es noch ein Eigenleben, Liebe und Freundschaft gab und die Mitglieder einer Familie, ohne nach dem Grund zu fragen, füreinander eintraten. Die Erinnerung an seine Mutter nagte an seinem Herzen, denn sie war aus Liebe zu ihm gestorben, als er selbst noch zu jung und eigensüchtig war, um ihre Liebe zu erwidern, und weil sie sich irgendwie – auf welche Weise, erinnerte er sich nicht mehr – einem Treuegedanken geopfert hatte, an den sie persönlich und unerschütterlich glaubte. Derlei konnte heutzutage nicht mehr vorkommen, das begriff er. Heutzutage gab es Angst, Haß und Leid, aber keine starken und wertvollen Gefühle, keine tiefen und echten Schmerzen. All das schien er in den großen Augen seiner Mutter und seiner Schwester zu lesen, mit denen sie ihn durch das grüne Wasser aus einer Tiefe von vielen hundert Klafter ansahen, dabei immer tiefer versinkend.
Plötzlich stand er auf einer abgemähten Wiese, auf der federnden Grasnarbe; es war ein Sommerabend, und die Strahlen der untergehenden Sonne vergoldeten die Erde. Die Landschaft, die er sah, kehrte so oft in seinen Träumen wieder, daß er nie ganz sicher war, ob er sie nicht in Wirklichkeit gesehen hatte. In seiner wachen Vorstellung nannte er sie das Goldene Land . Es war eine alte, von Kaninchen bevölkerte Weide, durch die ein Fußpfad lief, mit da und dort einem Maulwurfshügel. In der unregelmäßigen Baumreihe jenseits der Wiese wiegten sich die Zweige der Ulmen leise in der sanften Brise, und ihre Blätter wogten in dichten Büscheln wie Frauenhaar. In der Nähe war, wenn auch außer Sicht, ein klarer, träge dahinfließender Fluß, in dessen seichten Buchten unter den Weidenbäumen sich Weißfische tummelten.
Das Mädchen mit dem dunklen Haar kam über die Wiese auf ihn zu. Mit einer einzigen Bewegung riß sie sich das Kleid herunter und warf es verächtlich beiseite. Ihr Leib war weiß und weich, aber er weckte kein Verlangen in ihm, ja er sah ihn kaum an. Was ihn in diesem Augenblick ganz erfüllte, war die Bewunderung für die Gebärde, mit der sie ihre Kleider weggeschleudert hatte. Mit ihrer Grazie und Unbekümmertheit schien sie eine ganze Kultur abzutun, eine ganze Denkordnung, so, als könnten der Große Bruder, die Partei und die Gedankenpolizei mit einer einzigen herrlichen Armbewegung weggewischt werden. Auch das war eine der alten Zeit angehörende Geste. Winston wachte mit dem Wort »Shakespeare« auf den Lippen auf.
Der Televisor ließ einen ohrenbetäubenden Pfeifton hören, der in gleicher Höhe dreißig Sekunden lang anhielt. Es war Punkt sieben Uhr fünfzehn, Zeit zum Aufstehen für alle Behördenangestellten. Winston wälzte seinen Körper aus dem Bett – er schlief nackt, denn ein Mitglied der Äußeren Partei erhielt nur dreitausend Kleiderpunkte im Jahr – und ergriff ein über dem Stuhl liegendes graufarbenes Unterhemd und eine kurze Sporthose. In drei Minuten begann die Morgengymnastik. Doch im nächsten Augenblick krümmte er sich unter einem heftigen Hustenanfall, der ihn fast immer kurz nach dem Erwachen überfiel.
Seine Lungen wurden dadurch so vollständig leergepumpt, daß er erst wieder Atem schöpfen konnte, indem er sich der Länge nach auf den Rücken streckte und ein paar tiefe Atemzüge machte. Seine Adern waren unter der Anstrengung des Hustens geschwollen, und die Krampfaderknoten hatten angefangen zu schmerzen.
»Gruppe der Dreißig- bis Vierzigjährigen!« kläffte eine schrille Frauenstimme. »Gruppe der Dreißig- bis Vierzigjährigen. Bitte, auf die Plätze! Dreißig- bis Vierzigjährige.«
Winston nahm stramme Haltung vor dem Televisor an, auf dessen Schirm bereits das Bild einer ziemlich jungen, mageren, aber muskulösen Frau in einem Kittel und Turnschuhen erschienen war.
»Arme beu-gt und streckt!« legte sie los. »Im Takt, bitte! Eins , zwei, drei, vier! Eins , zwei, drei, vier! Los, Genossen, ein bißchen
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