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1984

1984

Titel: 1984 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: George Orwell
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Winston«, sagte O'Brien sanft.
    »Was kann ich dagegen machen?« stieß er unter Schmerzen hervor. »Was kann ich dagegen machen, daß ich sehe, was ich vor Augen habe? Zwei und zwei macht vier.«
    »Manchmal, Winston. Manchmal macht es fünf. Manchmal drei.
    Manchmal alles zusammen. Sie müssen sich mehr Mühe geben. Es ist nicht leicht, vernünftig zu werden.«
    Er legte Winston auf das Streckbett nieder. Seine Glieder wurden wieder umklammert, aber der Schmerz 113
    George Orwell – 1984
    war abgeflaut, und das Zittern hatte aufgehört; er fühlte sich nur noch kalt und schwach. O'Brien gab mit dem Kopf dem Mann im weißen Mantel ein Zeichen, der während des ganzen Verhörs unbeweglich dagestanden hatte. Der Mann im weißen Mantel beugte sich hinunter und blickte aufmerksam in Winstons Augen, befühlte seinen Puls, legte ein Ohr an seine Brust, klopfte ihn da und dort ab. Dann nickte er O'Brien zu.
    »Noch einmal«, sagte O'Brien.
    Der Schmerz durchflutete Winstons Körper. Der Zeiger mußte auf siebzig, fünfundsiebzig stehen.
    Diesmal hatte Winston die Augen geschlossen. Er wußte, daß die Finger noch immer erhoben und daß es noch immer vier waren. Es kam nur darauf an, irgendwie am Leben zu bleiben, bis der krampfartige Schmerz vorüber war. Er war sich nicht mehr bewußt, ob er schrie oder nicht. Der Schmerz ließ wieder nach. Er öffnete die Augen. O'Brien hatte die Hebel zurückgedreht.
    »Wie viele Finger, Winston?«
    »Vier. Ich glaube, es sind vier. Ich würde fünf sehen, wenn ich könnte. Ich versuche, fünf zu sehen.«
    »Was wollen Sie: mir einreden, Sie sähen fünf, oder sie wirklich sehen.«
    »Sie wirklich sehen.«
    »Noch einmal«, sagte O'Brien.
    Der Zeiger war vielleicht bei achtzig, neunzig. Winston konnte sich nur in Abständen entsinnen, warum der Schmerz da war. Hinter seinen verdrehten Augenlidern schien ein Wald von Fingern sich in einer Art Tanz zu bewegen, sich zu verflechten und wieder aufzulösen, einer hinter dem anderen zu verschwinden und wieder zu erscheinen. Er versuchte, sie zu zählen, ohne sich erinnern zu können, warum er das tat. Er wußte, daß es unmöglich war, sie zu zählen, und daß das irgendwie mit der geheimnisvollen Gleichheit zwischen fünf und vier zusammenhing. Der Schmerz ließ wieder nach. Als er die Augen öffnete, sah er noch immer das gleiche: zahllose Finger glitten immer noch wie sich bewegende Bäume wechselweise nach beiden Seiten vorüber. Er schloß wieder die Augen.
    »Wie viele Finger halte ich hoch, Winston?«
    »Ich weiß nicht, weiß es nicht. Sie töten mich, wenn Sie noch einmal einschalten. Vier, fünf, sechs – ganz ehrlich gesagt, ich weiß es nicht.«
    »Schon besser«, sagte O'Brien.
    Eine Nadel drang in Winstons Arm. Fast im gleichen Augenblick durchflutete eine wonnige, wohltuende Wärme seinen ganzen Körper. Der Schmerz war bereits halbwegs vergessen. Er öffnete die Augen und blickte dankbar zu O'Brien. empor. Beim Anblick dieses ernsten, tiefgefurchten Gesichts, das so häßlich und so klug war, schien sich ihm das Herz umzudrehen. Hätte er sich bewegen können, er hätte eine Hand ausgestreckt und sie auf O'Briens Arm gelegt. Noch nie hatte er ihn so tief geliebt wie in diesem Augenblick, und nicht nur deshalb, weil er den Schmerz abgestellt hatte. Das alte Gefühl, daß es im Grunde nichts ausmachte, ob O'Brien ein Freund war oder ein Feind, hatte sich wieder eingestellt. O'Brien war ein Mensch, mit dem man reden konnte. Vielleicht will man nicht so sehr geliebt als verstanden sein. O'Brien hatte ihn fast bis zum Wahnsinn gefoltert, und nach einer kleinen Weile würde er ihn mit Bestimmtheit dem Tod überliefern. Das bedeutete nichts. In gewissem Sinne ging alles das tiefer als Freundschaft, sie waren Engvertraute: irgendwie gab es, obwohl das vielleicht nie mit Worten ausgesprochen wurde, eine Ebene, auf der sie sich begegnen und miteinander reden konnten. O'Brien blickte auf ihn hinunter mit einem Gesichtsausdruck, der nahe legte, er habe vielleicht den gleichen Gedanken im Sinn. Als er sprach, war es in einem leichten Unterhaltungston.
    »Wissen Sie, wo Sie sich befinden, Winston?« fragte er.
    »Nein, ich weiß es nicht. Aber ich kann es mir denken. Im Ministerium der Liebe.«
    »Wissen Sie, wie lange Sie hier gewesen sind?«
    »Ich weiß es nicht. Tage, Wochen, Monate – ich glaube, es sind Monate.«
    »Und warum, glauben Sie, bringen wir die Menschen hierher?«
    »Um sie zu einem Geständnis zu zwingen.«
    »Nein, das

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