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1984

1984

Titel: 1984 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: George Orwell
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hatten ein Bündnis mit Ostasien. Der Krieg war gegen Eurasien gerichtet. Dieser hatte vier Jahre gedauert. Vorher –«
    O'Brien gebot ihm mit einer Handbewegung Einhalt.
    »Ein anderes Beispiel«, sagte er. »Vor einigen Jahren hatten Sie unter einer tatsächlich sehr ernsten Selbsttäuschung zu leiden. Sie glaubten, drei Männer, drei ehemalige Parteimitglieder namens Jones, Aaronson und Rutherford – Männer, die wegen Hochverrat und Sabotage hingerichtet wurden, nachdem sie das denkbar umfassendste Geständnis abgelegt hatten –, seien der Verbrechen, deren sie angeklagt wurden, nicht schuldig. Sie glaubten, einen unumstößlichen dokumentarischen Beweis gesehen zu haben, wonach ihre Geständnisse falsch waren. Es spielte da eine gewisse Fotografie eine Rolle, bezüglich der Sie eine Halluzination gehabt hatten. Sie glaubten, sie tatsächlich in Händen gehalten zu haben. Es war eine Fotografie ungefähr wie diese da.«
    Ein länglicher Zeitungsausschnitt war zwischen O'Briens Fingern zum Vorschein gekommen. Vielleicht fünf Sekunden lang befand er sich in Winstons Gesichtswinkel. Es war eine Fotografie, und es bestand keine Frage, was sie darstellte. Es war die Fotografie. Es war ein anderer Abzug der Aufnahme von Jones, Aaronson und Rutherford bei der Parteifunktion in New York, auf der er vor elf Jahren zufällig gestoßen war und die er sogleich vernichtet hatte. Nur einen Augenblick hatte er einen Blick darauf werfen können, dann war sie wieder fort. Aber er hatte sie gesehen, hatte sie fraglos gesehen! Er machte eine verzweifelte, qualvolle Anstrengung, seine obere Körperhälfte zu befreien. Es war unmöglich, sich auch nur um einen Zentimeter in irgendeiner Richtung zu bewegen. In diesem Augenblick hatte er sogar die Skala vergessen. Er wollte nur noch einmal die Fotografie in Händen halten oder sie wenigstens sehen.
    111
    George Orwell – 1984
    »Sie ist vorhanden!« rief er.
    »Nein«, sagte O'Brien.

Er ging durchs Zimmer. In der Wand drüben befand sich ein Gedächtnis-Loch . O'Brien hob das Schlitzgitter. Ungesehen wirbelte das leichte Stückchen Papier in dem Warmluftzug davon; es verschwand in einem Aufflammen. O'Brien wendete sich von der Wand ab.
    »Asche«, sagte er. »Nicht einmal identifizierte Asche. Staub. Es ist nicht vorhanden. War nie vorhanden.«
    »Aber es war vorhanden! Ist vorhanden! Es ist in meiner Erinnerung vorhanden. Ich erinnere mich daran.
    Sie erinnern sich daran.«
    »Ich erinnere mich nicht daran«, sagte O'Brien.
    Winstons Mut sank. Das war Zwiedenken. Es überkam ihn ein Gefühl vollständiger Hilflosigkeit. Wenn er hätte sicher sein können, daß O'Brien log, dann hätte das nichts ausgemacht. Aber es war durchaus möglich, daß O'Brien das Bild wirklich vergessen hatte. Und wenn dem so war, dann hätte er bereits vergessen, daß er geleugnet hatte, sich an sie zu erinnern, und auch den Vorgang des Vergessens vergessen.
    Wie konnte man sicher sein, daß es nur Betrug war? Vielleicht konnte diese verrückte Korrektur nach unseren Wünschen wirklich im Verstand vor sich gehen: das war der Gedanke, der ihn niederschmetterte.
    O'Brien blickte prüfend auf ihn hinunter. Mehr als je sah er aus wie ein Lehrer, der sich mit einem widerspenstigen, aber vielversprechenden Kinde Mühe gibt.
    »Es gibt einen Partei-Wahlspruch bezüglich der Kontrolle der Vergangenheit«, sagte er.
    »›Wer die Vergangenheit kontrolliert, der kontrolliert die Zukunft; wer die Gegenwart kontrolliert, der kontrolliert die Vergangenheit‹«, wiederholte Winston folgsam.
    »›Wer die Gegenwart kontrolliert, der kontrolliert die Vergangenheit‹«, sagte O'Brien mit einem zustimmenden Kopfnicken.
    »Sie sind der Meinung, Winston, daß die Vergangenheit eine tatsächliche Existenz hat?«
    Wieder bemächtigte sich Winstons das Gefühl der Hilflosigkeit. Seine Augen suchten rasch die Skala.
    Nicht nur wußte er nicht, ob »ja« oder »nein« die richtige Antwort war, die ihn vor Schmerz bewahren würde; er wußte nicht einmal, welche Antwort ihm die richtige schien.
    O'Brien lächelte leise. »Sie sind kein Metaphysiker, Winston«, sagte er. »Bis jetzt hatten Sie nie in Betracht gezogen, was mit Existenz gemeint ist. Ich will es deutlicher ausdrücken. Existiert die Vergangenheit konkret – im Raum? Gibt es irgendwo einen Ort, eine Welt greifbarer Dinge, wo die Vergangenheit noch in Erscheinung tritt?«
    »Nein.«
    »Wo dann existiert die Vergangenheit, wenn überhaupt?«
    »In Aufzeichnungen. Sie

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