Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
1984

1984

Titel: 1984 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: George Orwell
Vom Netzwerk:
Ort treffen, wo keine Dunkelheit herrscht.«
    Er erinnerte sich nicht, daß sein Verhör jemals ein Ende genommen hätte. Es kam eine Zeitspanne, wo alles schwarz war, und dann hatte die Zelle oder das Zimmer, in dem er sich nun befand, langsam um ihn herum Gestalt angenommen. Er lag fast flach auf dem Rücken und war außerstande, eine Bewegung zu machen. Sein Körper wurde an jedem in Frage kommenden Punkt niedergehalten. Sogar sein Hinterkopf war auf irgendeine Weise festgeklammert. O'Brien blickte ernst und fast traurig auf ihn herunter. Sein Gesicht sah von unten gesehen derb und abgespannt aus, mit Säcken unter den Augen und müden Linien von der Nase zum Kinn. Er war älter, als Winston gedacht hatte; er war vielleicht achtundvierzig oder fünfzig Jahre alt. Seine Hand lag auf einer Skala mit einem Hebel darauf, mit rings um die Scheibe angeordneten Zahlen.
    »Ich sagte Ihnen«, erklärte O'Brien, »wenn wir uns wieder träfen, würde es hier sein.«
    »Ja«, sagte Winston.
    Ohne jede Warnung, außer einer kleinen Bewegung von O'Briens Hand, durchflutete eine Schmerzenswelle seinen Leib. Es war ein erschreckender Schmerz, denn er konnte nicht sehen, was vor sich ging, und hatte das Gefühl, als würde ihm eine todbringende Verletzung zugefügt. Er wußte nicht, ob sich der Vorgang wirklich abspielte oder die Wirkung elektrisch hervorgebracht wurde; aber sein Leib wurde aus der Form gedehnt, die Gelenke langsam auseinandergezerrt. Obwohl der Schmerz den Schweiß auf seiner 110
    George Orwell – 1984
    Stirn hatte ausbrechen lassen, war doch das Schlimmste vor allem die Angst, sein Rückgrat sei im Begriff, auseinander zureißen. Er biß die Zähne zusammen und atmete angestrengt durch die Nase in dem Bemühen, sich so lange wie möglich still zu verhalten.
    »Sie haben Angst«, sagte O'Brien, der sein Gesicht beobachtete, »daß im nächsten Augenblick etwas birst. Sie fürchten besonders, daß es Ihr Rückgrat sein könnte. Ihnen schwebt lebhaft das Bild vor, daß die Rückenwirbel auseinander schnappen und das Rückenmark zwischen ihnen heraustropft. Das sind Ihre Gedanken, stimmt's, Winston?«
    Winston antwortete nicht. O'Brien drehte den Hebel auf der Scheibe zurück. Die Schmerzenswelle ebbte fast ebenso schnell ab, wie sie gekommen war.
    »Das wäre Stärke vierzig«, bemerkte O'Brien. »Sie können sehen, daß die Zahlen auf dieser Skala bis hundert reichen. Wollen Sie bitte während unserer ganzen Unterhaltung daran denken, daß es in unserer Macht steht, Ihnen in jedem Augenblick und in jedem von mir gewünschten Grad Schmerz zuzufügen.
    Wenn Sie mir Lügen auftischen oder irgendwelche Ausflüchte zu machen versuchen, oder auch nur sich dümmer stellen, als Sie sind, werden Sie sofort vor Schmerz aufschreien. Haben Sie verstanden?«
    »Ja«, sagte Winston.
    O'Briens Art und Weise wurde weniger streng. Er rückte nachdenklich seine Brille zurecht und machte ein paar Schritte hin und her. Als er sprach, war seine Stimme sanft und geduldig. Er sah aus wie ein Arzt, ein Lehrer, ja sogar wie ein Priester, mehr darauf bedacht, zu erklären und zu überreden, als zu bestrafen.
    »Ich gebe mir Mühe mit Ihnen, Winston«, sagte er, »denn bei Ihnen lohnt sich die Mühe. Sie wissen sehr wohl, was mit Ihnen los ist. Sie wußten es seit Jahren, wenn Sie es auch nicht wissen wollten. Sie sind geistesgestört. Sie leiden an einem Gedächtnisdefekt. Sie sind außerstande, sich wirklicher Geschehnisse zu erinnern, und reden sich ein, sich an andere Geschehnisse zu erinnern, die nie stattfanden. Zum Glück ist das heilbar. Sie haben sich nie davon geheilt, weil Sie es nicht wollten. Es bedurfte einer kleinen Willensanstrengung, die zu machen Sie nicht willens waren. Sogar jetzt halten Sie an Ihrer moralischen Krankheit fest in dem Wahn, sie sei eine Tugend. Nun wollen wir mal ein Beispiel hernehmen. Mit welcher Macht ist Ozeanien augenblicklich im Kriegszustand?«
    »Als ich verhaftet wurde, befand sich Ozeanien im Kriegszustand mit Ostasien.«
    »Mit Ostasien. Richtig. Und Ozeanien hat sich immer im Kriegszustand mit Ostasien befunden, nicht wahr?«
    Winston schöpfte Atem. Er machte den Mund auf, um zu sprechen, und sprach dann doch nicht. Er konnte seinen Blick nicht von der Skala wegwenden.
    »Die Wahrheit, bitte, Winston. Ihre Wahrheit. Sagen Sie mir, was Sie sich zu erinnern glauben.«
    »Ich erinnere mich, daß wir uns eine Woche vor meiner Verhaftung überhaupt noch nicht im Krieg mit Ostasien befanden. Wir

Weitere Kostenlose Bücher