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1994 Jagdzeit in Deutschland (SM)

1994 Jagdzeit in Deutschland (SM)

Titel: 1994 Jagdzeit in Deutschland (SM) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hinrich Matthiesen
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zu bekommen, weißt du auch. Dreimal wurde der Antrag abgelehnt. Aber schon die Tatsache, daß er überhaupt und dann auch noch mehrmals gestellt worden war, machte mich zum Staatsfeind. Kennst ja die Logik unserer Funktionäre und Spitzel. Der bloße Wunsch, also das Ausreisebegehren, dokumentiert die gegen den eigenen Staat gerichtete Einstellung. Darum mußten wir uns verdammt vorsehen. Das taten wir auch, gaben uns linientreu. Ich stellte keinen neuen Antrag, sondern redete den Spitzeln, die mir ja als solche bekannt waren, nach dem Mund, und Tilmann besuchte eifrig die Schulungsnachmittage der FDJ. Aber im stillen verstärkte sich unser Wunsch, die DDR zu verlassen, immer mehr. Bis mein Schwiegervater uns eines Tages von den Brockmüllers erzählte, also seiner Nichte und deren Mann. Die saßen nahe der Grenze auf einem volkseigenen landwirtschaftlichen Betrieb, den sie, zusammen mit einem anderen Ehepaar, bewirtschafteten. Auch die Brockmüllers hatten den sehnlichen Wunsch, in den Westen überzuwechseln …

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    … Natürlich hüteten sie diesen Wunsch vor jedermann, anfangs auch vor Tilmann und mir. Wir hatten uns als Feriengäste bei ihnen angemeldet, aber auf Grund einiger Andeutungen meines Schwiegervaters ahnten sie, weshalb wir in Wirklichkeit kamen. Daß wir nämlich mit ihnen den großen Schritt wagen wollten. Sobald sie die Sicherheit gewonnen hatten, daß wir echt waren, rückten sie raus mit ihrem Plan.
    Es war ein toller Plan! Aber er war auch ein bißchen verrückt. Er war so, daß man sagen konnte, fabelhaft ausgedacht, doch ob er funktioniert, steht auf einem anderen Blatt.
    Also, Julius Brockmüller hatte einen Mähdrescher in der Scheune, und dieses schwerfällige Vehikel sollte zu einem Fluchtfahrzeug umgebaut werden. Das bedeutete, ihm eine andere Maschine zu geben, die Wände zu verstärken, Flüchtlingsverstecke zu schaffen, aber alles so, daß die ursprünglichen Funktionen bewahrt wurden. Die für die einzelnen Arbeitsgänge notwendigen Teile wie Ährenheber, Schneidewerk, Saugrüssel, Drehtrommel, Sieb, Rücklaufboden und was es da sonst noch gibt, mußten drinbleiben, denn unmittelbar vor der Flucht hatte der Kasten ganz ordnungsgemäß und unverfänglich seine Bahnen übers Feld zu ziehen. Er war ja vom Wachtturm aus zu sehen.
    Besonders wichtig war das Auswechseln der Maschine. Ich weiß nicht, wie hoch die maximale Geschwindigkeit ist, die ein Mähdrescher erreicht, aber groß wird sie nicht sein. Mit einem Militärfahrzeug kann er’s jedenfalls nicht aufnehmen, das wäre so, als liefen da eine Schnecke und ein Wiesel um die Wette. Brockmüller hatte den Motor schon vor unserer Ankunft besorgt und rechnete mit einer Stundengeschwindigkeit von bis zu sechzig Kilometern. Das kam nämlich hinzu. Eine Probefahrt konnte er nicht machen. Wäre da ein Mähdrescher mit einem solchen Tempo durch die Gegend gebraust, hätte jeder zufällige Beobachter Alarm geschlagen, gar nicht mal, weil er Böses ahnte, sondern wegen der Sensation.
    Tilmann und ich haben noch fleißig mitgearbeitet, meistens in der verriegelten Scheune. Aber selbst das war problematisch, denn es lief ja nicht ohne Geräusche ab. Also gab es für den Fall, daß Besuch käme, ein zweites Reparaturobjekt, eins zum Vorzeigen, und zwar einen halb auseinandergenommenen Trecker, und die riesige Abdeckplane für den Mähdrescher lag immer griffbereit. Einmal kam auch jemand, ein Nachbarssohn, den aber nicht der Arbeitslärm angelockt hatte, sondern der, wie es auf dem Lande noch üblich ist, eine Geburt melden wollte. Der Junge war erst dreizehn oder vierzehn Jahre alt und stellte keine Fragen. Er überbrachte nur seine Botschaft und zog dann weiter. Ach ja, das hab’ ich vergessen. Das andere Ehepaar war im Urlaub. Brockmüller hatte es trotz der Erntezeit so einrichten können. Kurzum, wir schafften es, aus dem Koloß ein geländegängiges Fahrzeug zu machen, und als der Tag X gekommen war … , nein, ich hab’ schon wieder was vergessen!«
    »Den Fluchtweg«, warf der Onkel ein.
    »Stimmt. Die entsprechende Landkarte hatten wir, aber es ging um eine minenfreie Schneise durch den Todesstreifen. Einfach querfeldein auf den Zaun zuhalten, das war unmöglich. Wir wären nach wenigen Metern hochgegangen. Also mußte observiert werden. In bestimmten Abständen führten die Posten Kontrollfahrten durch, die bis an den Zaun gingen, und das taten sie natürlich auf minenfreien Zuwegen, die aber nicht markiert waren. Wir hatten Glück.

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