2008 - komplett
weiß nicht, wo er ist. Er sollte eigentlich jetzt an meiner Stelle hier sitzen, doch gestern verschwand er, während er in irgendeiner Sache unterwegs war, die gegen meinen Befehl verstieß. Ich beschloss, meinen Plan auch ohne ihn in die Tat umzusetzen. Ich bete, dass er inzwischen nach Mountgrave zurückgekehrt ist und sein Temperament unter Kontrolle hat.“
Plötzlich kam ihr ein schrecklicher Verdacht. „Hattet Ihr ihm von Eurem Plan erzählt?“
Er zuckte hoch und sah sie an. „Seid Ihr eine Hexe, Weib?“
„Ihr müsst verrückt sein. Warum habt Ihr es ihm nicht erzählt?“
„Ich muss meinem jüngeren Bruder nicht alles sagen, was ich plane. Außerdem verdiente er es, für seine Dummheit Blut und Wasser zu schwitzen.“ Plötzlich beugte er sich vor und kam dabei den Flammen fast zu nahe. „Wie habt Ihr das erraten?
Was wisst Ihr noch alles?“
Ihr Mund war mit einem Mal wie ausgedörrt, aber nicht vor Angst, sondern weil sie schlechte Nachrichten für ihn hatte. „Lord Edmund, ich fürchte, Lord Henry hat Euren Bruder in sein Verlies gebracht.“
„Wie bitte?“ Aufgebracht sprang er auf, und einen Moment lang fürchtete sie, er könnte sie zu würgen versuchen, doch dann bekam er sich wieder unter Kontrolle und sank auf den Boden zurück. „Erzählt.“
Joan atmete tief durch. „Heute Morgen mitten bei den Vorbereitungen zum Fest brachten einige Wachleute einen Gefangenen nach Woldingham. Ich konnte ihn nicht genau sehen, und vielleicht ist er ja gar nicht Euer Bruder. Doch obwohl er schlichte Kleidung trug, sah er nicht nach einem Bauern aus. Mein Onkel ließ ihn ins Verlies bringen und erklärte, er wolle zur Weihnachtszeit keine Unstimmigkeiten, dennoch schien er außergewöhnlich erfreut und zufrieden zu sein. Außerdem ließ er die Zahl der Wachen verdoppeln. Ich dachte mir nichts dabei, weil ich mit meinen eigenen Problemen zu tun hatte. Aber nun fürchte ich, es handelte sich um Euren Bruder, der gefasst wurde, als er auf irgendeine Weise versuchte, Nicolette aus der Burg zu holen.“
„Sollen die Kobolde der Hölle ihn quälen“, sagte Lord Edmund.
„Lord Henry, meint Ihr?“
„Nein, meinen Bruder.“
„Ihr hättet es ihm sagen sollen. So dachte er natürlich, es würde Euch nicht interessieren, und ...“
„Ein Schlag genügt, Lady Joan, Ihr müsst mich nicht gleich mit Euren Worten auspeitschen.“ Einen Moment lang legte er den Kopf auf seine Hände. „Dann müssen wir nun sogar zwei aus der Burg holen.“
„Und mich dorthin zurückbringen.“ Sie hielt die Finger an das wärmende Feuer und fragte sich, ob Lord Henry auch weiterhin zu Weihnachten Frieden wahren wollte, wenn er doch glauben musste, dass seine Tochter in den Händen der Familie war, der sein Gefangener angehörte. Möglicherweise wurde in diesem Augenblick Gerald de Graves im Verlies gefoltert.
Sie sah zu Lord Edmund, der aller Arroganz zum Trotz seinen Bruder liebte und der notfalls die Last der ganzen Welt auf seinen Schultern tragen würde.
„Wenn ich heimlich zurückkehren könnte, Mylord, dann würde es mir vielleicht gelingen, Euren Bruder zu befreien. Dann könnte er entkommen und womöglich sogar Nicolette mitnehmen.“
„Ihr sagtet doch, Lord Henry habe die Zahl der Wachen verdoppeln lassen.“
„Aber es ist Weihnachtszeit.“
„Wenn nur einer meiner Wachmänner von einer Frau überrumpelt werden könnte –
ganz gleich, ob an Weihnachten oder nicht –, dann würde ich ihn um einen Kopf kürzer machen lassen. Und ich müsste Lord Henry schon unterschätzen, glaubte ich, er würde einen de Graves von einem anderen als seinem besten Wachmann beaufsichtigen lassen. Immerhin hat er jetzt etwas gegen mich in der Hand.“
„Oh.“ Sie kam sich dumm vor, dass ihr das nicht klar geworden war. „Er wird das Leben Eures Bruder gegen das Bethlehem-Banner eintauschen wollen?“
„Euer Leben wäre nichts mehr wert, würdet Ihr ihn um seine Chance auf einen Sieg bringen.“
„Er würde nicht wissen, dass ich es war.“
„Wer käme sonst noch auf eine solche Idee?“
Nach einer kurzen Pause antwortete sie: „Nicolette. Wenn ich unbemerkt zurückkehre, wird Lord Henry glauben, dass seine Tochter die Jungfrau Maria gespielt hat. Wenn sie dann mit Eurem Bruder verschwindet, glaubt er, sie sei zurückgekehrt, um ihn zu befreien. Wenn sie entkommen können, dann ist alles in Ordnung.“
Ihr machten diese Worte Hoffnung, doch er schüttelte den Kopf. „Erstens wird es keiner Frau – auch
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