Das Paradies
Prolog Al Tafla, ein Dorf am Nil (Gegenwart)
»Doktor! Doktor!«
Amira blickte zur Tür und sah draußen auf dem schmalen Weg Achmed; der junge Fellache kam in letzter Zeit öfter zur Krankenstation und bot stumm seine Dienste an. Achmed war intelligent und versuchte auf seine Weise, etwas von dem zu begreifen, was die Ärztin hier tat. Er saß auf einem Esel und deutete außer Atem zur Dorfstraße. »Ein Auto aus Kairo ist gekommen, Doktor! Das Auto steht mitten im Dorf! Eine vornehme Frau sitzt darin!«
»Danke, Achmed«, sagte Amira und dachte:
Sie ist also gekommen. Ich bleibe hier und werde sie nicht begrüßen. Sie muß zu mir kommen
…
Achmed wendete den Esel, trieb ihn mit leichten Stockschlägen an und ritt schnell zur Hauptstraße zurück. Amira unterdrückte ihre plötzliche Angst und richtete ihre Aufmerksamkeit wieder auf den kleinen Patienten, einen Säugling. Seine Fontanelle war so eingesunken, daß er ein Loch im Kopf zu haben schien. Während sie behutsam das Baby untersuchte, wehte vom Fluß ein sanfter Wind durch die offene Tür der Ambulanz. Er trug aus der Ferne Musik und Lachen in das Untersuchungszimmer und verbreitete auch den Bratenduft eines Lamms am Spieß. Dr. van Kerk erinnerte sich auf diese Weise daran, daß in einem Haus am Dorfrand eine Hochzeit gefeiert wurde. Der junge Hussein heiratete die hübsche, aber arme Sandra, die durch diese Ehe ihrer Familie zu mehr Ansehen im Dorf verhalf. Der aufreizende Klang der Trommeln verkündete den Dorfbewohnern, daß die Frauen den Bauchtanz begonnen hatten, um damit die Fruchtbarkeit des Brautpaars zu beschwören. So wie die Sitte es verlangte, würde später Blut fließen, um die Jungfräulichkeit der Braut unter Beweis zu stellen. Amira fragte sich, ob zu der Entjungferungszeremonie ihre Hilfe notwendig sein würde. Man rief sie manchmal, wenn es einem Bräutigam nicht gelang, die Jungfernhaut der Braut zu durchstoßen, und nur ein Skalpell diese Aufgabe erfüllen konnte. Obwohl Dr. Amira van Kerk keine Fellachin, keine Nilbäuerin, war, gehörte sie mittlerweile in allen Bereichen des Lebens zum Dorf und stand in dem ewigen Kreislauf von Geburt und Tod für alle hier an einem wichtigen Platz. Zu ihren Pflichten gehörte sogar manchmal, bei der Empfängnis eines Kindes zu helfen.
Aber was sollte sie tun, wenn die Brauteltern sie rufen ließen, während ihre Besucherin bei ihr war? Würde Amira den Mut aufbringen, den Gast aus Kairo einfach sitzen und warten zu lassen?
Habe ich überhaupt den Mut, sie zu begrüßen?
Amira konzentrierte sich auf den Säugling mit der eingefallenen Fontanelle, dem Zeichen für einen lebensgefährlichen Flüssigkeitsmangel. Diese Diagnose mußte die Ärztin in Al Tafla oft stellen. »Hör mir gut zu, Fatima«, sagte sie auf arabisch zu der noch sehr jungen Mutter, »ich habe dir das schon einmal gesagt. Dein Kind hat schweren Durchfall und bekommt nicht genug Flüssigkeit. Das Loch im Kopf bedeutet, daß du dafür sorgen mußt, daß dein Baby genug trinkt.«
»Oh nein, Doktorin, es ist der böse Blick, der meinen Abdu bedroht! Jemand beneidet mich um meinen Sohn und hat ihn verflucht!« Die junge Fellachin flüsterte eindringlich und bebend: »Ja Allah.« Bei Gott! »Nein, es ist nicht der böse Blick, Fatima«, widersprach Amira energisch, »in seinem Bauch sind Bakterien. Sie sind der Grund für den schweren Durchfall, und das führt zu der Austrocknung.« Sie hob mahnend den Finger und sagte nochmals streng: »Du mußt ihm mehr zu trinken geben.« Amira versuchte, nicht an die Frau zu denken, die jeden Augenblick in der Krankenstation erscheinen würde. »Fatima, dein Baby ist in großer Gefahr.«
Tränen stiegen der jungen Mutter in die Augen. Sie war vierzehn Jahre alt, und es war ihr erstes Kind.
Amira holte aus dem kleinen Kühlschrank hinter ihrem Schreibtisch eine Babyflasche mit einer klaren Flüssigkeit. Sie entfernte den Verschluß und schob dem Baby den Sauger zwischen die Lippen. Der Kleine begann sofort zu trinken. »So«, sagte sie und legte Fatima die Saugflasche in die Hand, »achte darauf, daß er alles trinkt.« Dann ging Amira zu einem Schrank und nahm einige Packungen mit dem Aufdruck der Weltgesundheitsorganisation heraus. Auf den Etiketten stand:
Orales Rehydrationsmittel.
Sie gab die Packungen der jungen Mutter und sagte: »Löse den Inhalt einer Packung in einem Krug Wasser von dieser Größe auf«, sie zeigte es ihr, »aber du mußt das Wasser zuerst kochen. Wenn es
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