Esswood House
KAPITEL EINS
Standish hatte gar nicht bemerkt, wie verkrampft er war, bis der Transatlantikjet schließlich vom Boden abhob und er sich gleichsam unwillkürlich mit Leib und Seele entspannte. Jetzt konnte ihn nichts mehr zurückholen, Jeans Nervosität nicht, seine eigenen Bedenken nicht. Es war entschieden; er war unterwegs. Die erstaunlich geometrische Karte der Lichter von New York City erschien im Fenster links von ihm und verschwand außer Sichtweite. Sie befanden sich in einem beunruhigenden, fast traumartigen Winkel zur Erde und in einer Höhe, die zu Isobel Standishs Zeit den sicheren Tod bedeutet hätte - doch was hätte sie, in deren Namen ihr Beinahe-Enkel sein Zuhause und seine im siebten Monat schwangere Frau zurückgelassen hatte, aus dem Erlebnis herausgeholt, hoch über der Erde dahingewirbelt zu werden?
Standish spürte, wie die Nervosität der vergangenen Monate weiter von ihm abfiel. Nervosität war eine stoffliche Substanz wie Schweiß oder Samen, und wie diese floß sie aus einer Quelle, die sich von selbst wieder nachfüllte. Natürlich war es richtig, daß er ging, selbst Jean hatte schließlich mit ihm übereingestimmt, daß Esswood eine wunderbare Gelegenheit für sie beide bot: Mit drei oder vier Wochen Aufenthalt in Esswood konnte er den Grundstein für seinen akademischen Titel, für ein Buch über Isobel - seine Beinahe-Großmutter -, für die nächste Phase seines Lebens legen. Wenn er zurückkehrte, sollte er, so sicher, wie Jean abermals eine andere Art zukünftigen Lebens unter dem Herzen trug, den Keim einer gesicherten Zukunft in seiner Aktentasche tragen. Und offen gesagt, seine würde ihre finanzieren.
Von dieser tröstlichen Erkenntnis gestärkt, bestellte er bei der Stewardeß einen Martini. Natürlich kreiste ein Teil seiner Nervosität nicht um Jeans kaum verhohlenen Zorn, sondern um Esswood selbst. Es war gemeinhin bekannt, daß Esswood seine Stipendien, mitunter zu höchst unwillkommenen Zeiten für die Stipendiaten, die einen vorab vereinbarten, zeitlich begrenzten oder offenen Zeitraum dort verbringen wollten, um zu recherchieren oder in der Abgeschiedenheit der berühmten Bibliothek zu schreiben, wieder aberkannte. Die Seneschals, Esswoods Besitzer, schienen sich wenig um die Persönlichkeiten und Belange des akademischen Betriebs Amerikas zu scheren; Standish hatte zwei Männer gekannt, die eine Zeitlang diskret damit prahlten, daß sie für ein Semester in Esswood akzeptiert worden seien, aber plötzlich und unvermittelt kein Wort mehr darüber verloren. Man hatte sie hinausgeworfen, noch bevor sie dort waren.
Chester Ridgeley, der erste der beiden - ein steifer und exzentrischer, vorzeitig gealterter Eckpfeiler der Englisch-Fakultät -, gehörte zehn Jahre zuvor zu den ordentlichen Professoren des kleinen Popham College in Popham, Ohio, wo Standish seine akademische Laufbahn begonnen hatte. Ridgeley war eingeladen worden, ein Semester als Auszeit zu nehmen, um die Notizen und Gedichtentwürfe des obskuren georgianischen Dichters Theodore Corn zu sichten, den er dreißig Jahre zuvor zum Gegenstand seiner Dissertation gemacht hatte. Theodore Corn war offenbar häufig Gast von Esswood gewesen und hatte einmal tatsächlich gesagt, wer Esswood House und das Anwesen nicht selbst gesehen hätte - »das weite Feld und die träge Mühle jenseits des Teiches tönender Fülle«, hatten seine exakten Worte gelautet -, könne seine Poesie gar nicht richtig verstehen.
»Es gibt nichts Vergleichbares«, hatte ein anderes, damals noch als Freund angesehenes Fakultätsmitglied zu Standish - dem gutgläubigen jungen Standish - gesagt. »Der Ort ist trotz allem, was die Bibliothek beherbergen soll, praktisch ein Geheimnis. Er ist noch in Privatbesitz, und die Seneschals akzeptieren nur einen oder zwei Forscher pro Jahr. Offenbar hat sich seit den Ruhmestagen, als Edith Seneschal uneingeschränkt herrschte und Künstler im Westflügel, ganz zu schweigen vom Heuschober, Lustbarkeiten nachgingen, viel verändert. Die Familie lebt noch dort, aber in geregelten - und recht seltsamen - Verhältnissen, munkelt man.« Er war ein in jeder Hinsicht guter Munkler, dieser vorgebliche Freund. »Ridgeley hat so ein Glück - sechs Monate, um in der umfangreichen Bibliothek zu stöbern und kistenweise unveröffentlichtes Material dieses Tölpels Theodore Corn zu finden. Er kann die Landschaft rund um Esswood House bewundern, die atemberaubend sein soll. Und vielleicht entdeckt er das Geheimnis.
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