2008 - komplett
wurde man auf die beiden Neuankömmlinge aufmerksam, und erwartungsvolle Stille breitete sich aus.
Lord Henry de Montelan erhob sich trotz seines massigen Körpers elegant von seinem Stuhl, und seine rosigen Wangen ließen erkennen, wie gut er sich amüsierte.
„Da seid Ihr ja endlich! Nun, dann sprecht Euren Text.“
Der Dorfschulze sah Pater Hubert an, woraufhin der Priester sich mit einem Nicken in seine Rolle fügte. Er trat einen Schritt vor. „Lord Henry, etwas Entsetzliches ist geschehen.“
Aus dem erwartungsvollen wurde ein entsetztes Schweigen. „Wie bitte?“, rief Lord Henry und verließ das Podest, um zu ihnen zu kommen. Auch seine vier strammen Söhne standen langsam auf; sie wirkten zwar ein wenig verwirrt, waren aber hellwach. Irgendwo knurrte ein Hund. „Was ist geschehen? Wo sind Maria und Josef? Wo ist meine Tochter?“
Der Priester sank auf die Knie. „Die de Graves haben sie entführt, Mylord.“
Einen Moment lang herrschte unheilvolle Stille, dann auf einmal heulte ein Mann auf. Sir Gamel, der draufgängerischste von Lord Henrys Söhnen, sprang mit einem Satz über den Tisch, hinter dem er gestanden hatte, und bleckte die Zähne. „Mein Schwert! Mein Schwert! Ich werde ihnen allen den Leib aufschlitzen! Zu den Pferden, wir üben Rache!“
Mit diesen Worten stürmte er zum Tor, dicht gefolgt von seinen Brüdern.
Mit einer einzigen Handbewegung bewirkte Lord Henry, dass seine vier Söhne in ihrem Tatendrang innehielten. Vermutlich war er der einzige Mann in ganz England, der die jungen Männer aufhalten konnte. Obwohl Lord Henrys Gesicht noch immer gerötet war, hatte dies nun nichts mehr mit seiner vormals guten Laune zu tun. „Aye, mein Sohn, wir werden Rache üben, und es wird Blut fließen. Doch wir werden nicht blindlings in eine Falle laufen!“, rief er mit volltönender Stimme. Sofort waren alle Männer im Saal aufgesprungen. „Rüstungen! Waffen! Gamel, Lambert und Reyner, ihr werdet sie jagen und Nicolette unversehrt zurückbringen. Unversehrt, vergesst das nicht! Harry“, wandte er sich nun an seinen ältesten Sohn, „du und ich, wir bleiben hier. Für alle Fälle.“
Harry nickte zustimmend, wenngleich seine Miene keinen Hehl aus seiner Enttäuschung machte.
„Zu Weihnachten?“, fragte der junge Reyner, erst sechzehn, aber schon fast so groß wie seine Brüder. „Sie rauben am Heiligen Abend die Jungfrau Maria?“
„Den de Graves“, grollte sein Vater, „ist nichts zu schändlich.“
Innerhalb weniger Augenblicke legte sich eine kämpferische Stimmung über den ganzen Saal, während sich der Lord, sein ältester Sohn und der Waffenmeister in eine Diskussion über ihre Vorgehensweise vertieften. Pater Hubert und Cob beglückwünschten sich insgeheim, dass es für sie ohne Konsequenzen geblieben war, die schreckliche Nachricht zu überbringen, und verließen den Saal, nicht jedoch ohne zuvor noch ein großes Stück Fleisch und einige Brotlaibe mit auf den Weg zu bekommen, da den Anwesenden die Lust am Feiern vergangen war. Für die armen Dorfbewohner kam die Gabe dagegen einem kleinen Festmahl gleich.
„Eine schöne Bescherung“, brachte Cob hervor, den Mund voll mit saftigem Fleisch.
„An Weihnachten! An einem heiligen Feiertag! Was für gottlose Männer! Einfach nur gottlos.“
„Wollen wir hoffen, dass der armen Lady Nicolette nichts zustößt, Pater. Um unser aller Wohl.“
„Wie wahr, wie wahr.“ Dann warf der Priester seinem Freund einen nachdenklichen Blick zu. „Aber wisst Ihr, Cob, ich hätte schwören können, ich sah Lady Nicolette auf der Galerie des großen Saals, wie sie nach unten spähte.“
Verdutzt hielt der Dorfschulze inne. „Was sagt Ihr da? Nein, Pater, da müsst Ihr Euch irren. Wie sollte das möglich sein?“
„Nun, was wäre denn, wenn eine andere Dame die Rolle der Jungfrau gespielt hat?
Ich fand es jedenfalls ein wenig seltsam, dass Lady Nicolette die ganze Zeit über kein Wort mit mir sprach und sich unter ihrem Mantel praktisch versteckte.“
Cob schluckte einen Happen Fleisch. „Aber es ist eine Tradition, Pater. Eine heilige Tradition. Die jüngste Jungfrau im heiratsfähigen Alter in der Familie des Lords übernimmt die Rolle der Jungfrau. Und indem ...“
„... indem sie im Saal von Woldingham willkommen geheißen wird, anstatt sie fortzuschicken, um in einem Stall zu nächtigen, ist jedem für das kommende Jahr Gottes Segen sicher. Ja, ja. Das, was geschehen ist, macht einen schon nachdenklich, nicht
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