2008 - komplett
vernünftiges, passendes Ziel hin dirigieren ließ.
Nicolette schien sich über Joans Gegenwart und die Ablenkung zu freuen, die sie ihr bot, und nach kurzer Zeit wandelte sie sich zu einer lebendigen, charmanten Freundin – auch wenn sie hin und wieder unglücklich seufzte. Joan ihrerseits genoss den Reichtum und die Bequemlichkeiten, die Woldingham zu bieten hatte, und Gleiches galt für die zahlreichen gut aussehenden jungen Männer, die ihr Interesse an Nicolette bekundeten. Sie hatte für sich zwar längst entschieden, dass ein älterer, vernünftigerer Mann für sie als Ehemann besser geeignet war, dennoch gab es nichts dagegen einzuwenden, von höflichen jungen Burschen umschwärmt zu werden.
Auch wenn Nicolette sich erkennbar von keinem von ihnen in Versuchung geführt fühlte, hatte Joan gehofft, die Vorfreude auf das Weihnachtsfest würde ihre Seufzer für eine Weile verstummen lassen.
Je näher aber die Feiertage rückten, umso nachdenklicher und schwermütiger wurde Nicolette. Ihre Eltern waren zwar in Sorge um sie, da sie ihre Tochter über alles liebten, doch sie ließen kein Einlenken erkennen. Dieser Mann musste wahrhaftig völlig unpassend für Nicolette sein.
Dann eines Tages wurde Nicolette auf einmal ohnmächtig. Nachdem man sie in das luxuriöse Schlafgemach gebracht hatte, das sie sich mit ihrer Cousine teilte, sagte Joan ihr gehörig die Meinung. „Nicolette, dein Verhalten ist über alle Maßen dumm und albern. Kein Mann ist es wert, seinetwegen zu hungern und ohnmächtig zu werden!“
„Doch, das ist er!“, begehrte ihre Cousine auf, und plötzlich waren Tränen in ihren Augen zu sehen. „Aber das ist es eigentlich nicht ... ich ... ich habe solche Angst ...“
„Angst? Wovor?“
„Vor ... dem Schauspiel.“
„Du meinst das mit Maria und Josef? An Heiligabend?“
Nicolette nickte.
„Was ist an dem Stück, dass dir davon schlecht werden könnte? Du spielst doch schon seit drei Jahren die Jungfrau Maria, nicht wahr?“
„Ja, seit bei mir die ... Blutung begonnen hat. Die jüngste Jungfrau im heiratsfähigen Alter ...“
„Und?“
Nicolette sah sich erst im Raum um, als fürchte sie, jemand könnte dort lauern und sie belauschen, dann flüsterte sie: „Aber das bin ich nicht.“
„Was bist du nicht?“
„Eine Jungfrau .“
Mit offenem Mund sah Joan die Cousine an. Was sie da hörte, war so unfassbar, dass sie es nicht glauben wollte.
Aber es erklärte einiges.
„Schlimmer noch“, fuhr Nicolette fort, während sie die zitternden Hände vors Gesicht legte. „Ich erwarte ein Kind! Was soll ich nur machen?“ Mit großen Augen sah sie Joan hilfesuchend an. „Du darfst Vater und Mutter nichts davon sagen!“
„Das ist doch selbstverständlich“, versprach ihr Joan, die das Gefühl hatte, ihr Frühstück nicht länger bei sich behalten zu können. „Warum? Wie? Ich nehme ja nicht an“, herrschte sie ihre Cousine mit einer Mischung aus Entrüstung und Entsetzen an, „dass dich der Erzengel Gabriel aufgesucht hat. Wurde dir Gewalt angetan?“ Dies schien ihr die einzig vernünftige Erklärung zu sein.
Nicolette setzte sich auf. „Aber natürlich nicht. Ich liebe ihn!“
Ungläubig starrte Joan sie an. Nach Sir Taugenichts oder einem charmanten Troubadour zu schmachten, war eine Sache, aber ihm ihren Körper zu schenken ...?
„Wann?“
„Auf dem Jahrmarkt am Martinstag. Es ist einfach passiert. Wir wollten ein paar verstohlene Augenblicke für uns, und dann ... Wir waren doch beide so unglücklich, und ... ach, würde doch Vater bloß nachgeben! Aber bis vor Kurzem bin ich gar nicht auf den Gedanken gekommen, ich könnte ein Kind erwarten.“
Würde Onkel Henry sich von seiner sanfteren Seite zeigen, wenn er von dem Kind erfuhr? Sie wusste die Antwort, auch ohne ihm erst diese Frage stellen zu müssen.
Nicolettes Eltern verwöhnten ihre Tochter über die Maßen, doch wenn sie sich so gegen den Mann sträubten, den sie liebte, dann musste er für sie tatsächlich völlig unpassend sein. Daran würde auch ein Kind nichts ändern. Obwohl ... durch ein Kind würde sich alles ändern.
Ihr schauderte bei dem Gedanken an die Reaktion der Eltern, wenn Nicolette ihnen die Wahrheit gestehen musste. Würde das Kind sie davor bewahren, von ihrem Vater geschlagen zu werden? Von ihm in den finstersten Kerker gesperrt zu werden?
Würde die Liebe ihrer Eltern stärker sein als der Schock und die Schmach?
Ganz gleich, wie die erste Reaktion ausfiel, auf jeden Fall
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