0598 - Der Weg in den Schrecken
Er ging einen Schritt zurück, blieb auf dem gepflasterten Weg stehen, um einen besseren Blickwinkel zu bekommen. Er schaute hoch zu den zahlreichen Fenstern des Gebäudes. Dahinter lagen die Schlafräume, die Klassenzimmer und so weiter. Die meisten Vierecke waren dunkel. Sie schimmerten in einem matten Schwarz. Nur in einem spiegelte sich der Mond. Genau hinter dem Fenster lag Sharons Zimmer. Sie war Erics achtjährige Freundin und zudem seine kleine Cousine, das hatte man ihm gesagt.
Noch einmal schaute sich der dunkelblonde Junge um. Trotz seines geringen Alters reagierte er fast profihaft. Nicht umsonst hatte man ihm in diesem Camp eingeimpft, daß gewisse Anordnungen auch durchgeführt werden mußten.
Disziplin war alles, und dies machte sich jetzt bemerkbar. Eric stieß einen Pfiff aus.
Sharon kannte dieses Zeichen, und die Scheibe ihres Fensters war auch gekippt, im Gegensatz zu den anderen.
Kam sie?
Eric wurde nervös. Über dem Kragen des T-Shirts sammelte sich Schweiß auf der Nackenhaut. Wenn die blonde Sharon nicht erschien und er in der Nacht erwischt wurde, gab es Ärger.
Noch einmal unternahm er einen Versuch.
Und Sharon zeigte sich.
Wie mit weichen Farben gemalt, erschien hinter der Scheibe der Kopf eines Menschen. Er schmolz zusammen mit dem sich auf der Scheibe abzeichnenden Halbmond, dann bewegte sich das Glas. Im nächsten Augenblick hatte das Mädchen das Fenster geöffnet.
Eric winkte, damit er auch erkannt wurde.
Sharon nickte ihn zu. Es war für die Achtjährige nicht einfach, aus dem ersten Stock nach unten zu klettern, doch fast artistisch gewandt schob sie sich durch das Viereck, erreichte einen kleinen Vorsprung und balancierte dorthin, wo Efeu an der Wand hochwuchs.
Hinter den Pflanzen versteckt stand eine Leiter.
Eingeweihte kannten das Versteck der Leiter. Sharon gehörte zu ihnen. Zielsicher fand sie die erste Sprosse. Das Laub des Efeus raschelte, als Sharon nach unten stieg.
Sie ging geschmeidig. Man mußte schon sehr genau hinschauen, um sie überhaupt zu sehen, denn das meiste Laub deckte ihren Körper ab. Ihr Freund erwartete sie am Fuß der Leiter und hörte auch ihr erleichtertes Lachen.
Sharon blies eine Haarsträhne aus ihrer Stirn und faßte nach der Hand des Freundes. »War total leicht.«
»Ich habe Angst gehabt.«
»I wo, das haben wir geübt.« Sie zog den Jungen weg und schaute nicht einmal zurück. »Wo sollen wir jetzt hingehen?«
»Das weißt du nicht?«
»Doch – klar, ich meine, nehmen wir den direkten Weg, oder schlagen wir einen Bogen.«
»Nur das nicht.«
Sharon nickte. »Dann komm auch.« Sie senkte ihre Stimme. »Ich habe vorhin auf dem Flur Schritte gehört. Die schieben wieder Wache, glaube ich.«
»Na und?« Eric hob die Schultern. »Der Reverend steht hinter uns. Alles andere ist nicht wichtig.«
Sharon war schon vorgelaufen. Der Junge mußte sich beeilen, um sie einzuholen. Sie rannte an der Mauer entlang, die nicht nur ziemlich hoch war, sondern auch noch von Stacheldraht »verziert« wurde.
Der Weg führte bergauf. Eine einsam stehende Laterne verstreute ihr Licht schleierartig über den Boden. Wenn sie nach vorn blickten, starrten sie in die Nacht.
Bei dem unebenen Untergrund mußten sie achtgeben, daß sie nicht stolperten, aber sie waren den Weg schon öfter gelaufen, so kannten sie die Strecke wie im Schlaf.
Vor dem Tor blieben sie stehen. Beide waren außer Atem. Sharon hob den Kopf, um ihrem jungen Freund ins Gesicht schauen zu können. »Was ist jetzt?« fragte sie, Eric griff in die Tasche. Er holte einen langen Schlüssel hervor. »Das ist es.«
»Dann hast du ihn doch«, staunte das Mädchen.
»Ja – weshalb nicht?«
Sie hob die schmalen Schultern und strich die feuchten Handflächen am Jeansrock trocken. »Bisher habe ich das nicht richtig glauben können. Ich hielt dich für einen Spinner.«
»Den hat mir der Reverend persönlich gegeben und hat gemeint, daß wir jetzt reif wären, um die Geheimnisse ergründen zu können. Ich habe seine Worte genau behalten.«
»So? Hat er das?«
»Ja.«
»Und die anderen?«
»Das ist nicht meine Sache, Sharon. Wir gehören jedenfalls zu den Auserwählten, die hingehen dürfen.« Eric schob den Schlüssel ins Schloß, es klappte wie am Schnürchen.
Er drehte ihn zweimal herum. Das leichte Knarren irritierte ihn, und Sharon schaute mit fieberndem Blick zurück, war beruhigt, daß niemand sie verfolgte. Sie schienen es wirklich geschafft zu haben, ungesehen
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