2012 - Folge 1 - Botschaft aus Stein
vom Erdreich zu befreien. Mehr als eine Handspanne tief war ihm das aber nicht gelungen, darunter war der Untergrund so fest wie Beton. Das Risiko, dass die Säule umstürzte und womöglich zerbrach, wollte er keinesfalls eingehen. So weit er das erkennen konnte, trug der im Boden steckende Abschnitt aber keine Symbole.
Die Säule hatte einen rechteckigen Querschnitt. Sie war rund sechzig Zentimeter breit und gut vierzig tief und auf der Breitseite deutlich in drei senkrechte Abschnitte gegliedert. Das galt für Vorder- und Rückseite, wobei jeweils das mittlere Segment um wenige Zentimeter vorsprang.
Die logosyllabische Schrift der Maya bedeckte den Stein nur auf der Vorderseite. Die Zeichen waren präzise herausgearbeitet; wer immer diese Stele angefertigt hatte, war ein Meister seines Fachs gewesen.
Eine dünne Humusschicht und vermoderndes Laub bildeten eine verkrustete Patina. Tom hatte zuerst wahllos einige Zeichen freigelegt, nun fing er an, systematisch von oben nach unten die Verschmutzungen abzutragen. Er kappte nur die Luftwurzeln, bei denen er sicher sein konnte, dass sie den Stein nicht stützten. Nach zwei Stunden hatte er die obere Hälfte der Stele freigelegt, gerade so weit, dass die Leerstelle im vorderen Mittelteil zur Gänze sichtbar war. Es handelt sich um ein leicht in die Länge gezogenes Achteck, eine Vertiefung mit verstärktem Rand.
Mehrmals tastete der Archäologe die Ränder und die Rückseite der Aussparung ab. Er spürte nicht die geringste Erhebung; dieser Bereich fühlte sich so glatt an, als wäre er poliert worden. Besonders viel Fantasie gehört nicht zu der Vorstellung, dass ein spezieller Stein in diese Vertiefung hineingehörte.
Überhaupt schien Ericson die Stele höchst ungewöhnlich zu sein. Weniger was die Umstände ihrer Entdeckung anbelangte, als vielmehr die Tatsache, dass es sich eindeutig um eine Stele der Maya-Kultur handelte. Das stand für ihn außer Frage, kaum dass er die ersten Logogramme gesehen hatte. Der Stein befand sich an einem Ort, den die Maya niemals betreten hatten.
Das ist Lehrmeinung!, dachte Ericson grimmig. Stichhaltige Beweise zählen allemal mehr als vermeintlich Unwiderlegbares.
Möglicherweise hatte jemand die Säule nach Hiva Oa gebracht, der mit den Maya nichts zu tun hatte. Ein verrückter Kunstliebhaber? Der Gedanke mutete absonderlich an, war es aber vielleicht gar nicht. Ein reicher Privatsammler womöglich, der die Meinung vertrat, ein besonderes Stück Kulturgeschichte dürfe nicht hinter Panzerglas und Alarmanlagen eingeschlossen werden. Derselbe Mann, der die Toteneule platziert hatte und ... ...
den Toten auf dem Gewissen?
»Unsinn!« Ericson schüttelte den Kopf. Er schoss eine Reihe von Fotos aus den verschiedensten Perspektiven, betrachtete sie auf dem kleinen Bildschirm und schickte sie anschließend wie gewohnt an seine Mailadresse. Dann steckte er das Satellitentelefon wieder ein.
Das Skelett lag erst seit fünfzehn Jahren in der Höhle. Die Stele stand sehr viel länger hier. Ein oder zwei Jahrzehnte reichten nicht einmal unter besten Wachstumsbedingungen, dass Luftwurzeln der umstehenden Bäume sie so umschlingen konnten, wie Ericson es vorgefunden hatte. Er machte sich daran, den Rest des Steins zu säubern.
Immer wieder hielt er inne und versuchte die Zeichen zu lesen. Es gelang ihm nicht, jedenfalls nicht so, dass er einen Sinn erkannt hätte.
Die Schrift der Maya bestand aus Silbenzeichen und Logogrammen, wobei die einzelnen Zeichen auch für sich allein stehen konnten. Rund siebenhundert Schriftzeichen waren bislang bekannt, doch mit Sicherheit hatte es viel mehr gegeben.
In der Mehrzahl hatten die Logogramme Entsprechungen in lebenden Wesen und toten Dingen. Manche hatten ihren wahren Sinn aber nie preisgegeben. Und Silbenzeichen, aber auch Logogramme waren stets in unterschiedlichen Versionen gebraucht worden. Viele Schreiber hatten sich der Variante bedient, die ihrer darstellenden Ästhetik einfach als »schön« erschienen war. Das machte es nicht gerade leicht, neue Bildtafeln aus dem Stegreif heraus zu interpretieren. Die Zeit raste dahin.
Nachdem Tom Ericson endlich alle Zeichen freigelegt hatte und die Feinheiten ohne Pinsel und anderes Werkzeug nicht bewältigen konnte, blinzelte er überrascht in die untergehende Sonne. Als blutroter Ball stand sie schon dicht über dem Horizont. Er hatte die leichte Rotfärbung am Stein durchaus registriert, aber nicht darauf geachtet. Also noch eine Nacht unter
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