2012 - Folge 7 - Ein Grab im Dschungel
des gepflasterten Weges blieb Abigaile stehen und ließ nur den Taschenlampenkegel vorauswandern. Ihre Hoffnung, es könnten sich im Staub Spuren abzeichnen, erfüllte sich nicht. Jedenfalls nicht auf ganzer Strecke. Nur auf den ersten und letzten paar Reihen waren die Abdrücke, die sie beim Hereinkommen zu zweit und Soto beim Hinausgehen allein hinterlassen hatten, zu erkennen. Die restlichen Platten waren einfach zu sauber.
Und so stand Abby schließlich auf halbem Weg zum Ausgang, der von hier aus schon zu sehen war, und wusste nicht, auf welchen der vier Steine, die ihr von hier aus zur Auswahl standen, sie den Fuß setzen musste.
Abby entschied sich für einen Stein – bewusst wahllos, unterbewusst vielleicht einem Gefühl folgend, das sich um irgendeine Glückszahl drehte …
Egal, wie ihre Entscheidung zustande gekommen war, sie erwies sich als die falsche.
Und Diego de Landa hatte nicht nur in diesem Punkt vorausschauend geplant, sondern auch höchst präzise gearbeitet.
Es nützte Abby nämlich nichts, den ausgesuchten Stein zunächst nur vorsichtig mit der Fußspitze zu betasten und die Belastung ganz langsam zu steigern, um den Fuß notfalls wieder zurückzuziehen. Der falsche Stein reagierte bereits auf die geringste Berührung.
Unter Abbys Füßen grollte es wie bei einem Erdbeben. In den Wänden rumorte es, als sei dahinter etwas Lebendes aus langem Schlaf geweckt worden und nicht erfreut darüber. Von der Decke lösten sich Staub und faustgroße Erdklumpen, gefolgt von ersten Steinen, die auf die anderen Platten, die man nicht betreten durfte, herabprasselten.
Ein Riss zog sich vor Abby der Länge nach durch den Boden. Die Reliefs in den Tunnelwänden zerbrachen, ihre Brocken polterten ebenfalls zu Boden und ließen neue Sprünge entstehen.
Abby warf alle Vorsicht über Bord und rannte los. Ihre Füße hämmerten auf Steine, die sich unter ihren Sohlen augenblicklich spürbar senkten. Sie stolperte, fing sich, lief weiter.
Erdbrocken und von der Decke regnende Steine trafen ihre Schultern, ihren Kopf. Blut lief ihr über Stirn und Gesicht.
Der Tunnelausgang und der grüne Schimmer des draußen im Dschungel zu Ende gehenden Tages kamen näher. Aber nicht nahe genug.
Der Ausgang lag noch über fünf Meter entfernt, als es unter Abby plötzlich keinen Boden mehr gab, über den sie laufen konnte.
Sie fiel, mit den Armen rudernd und mit den Händen blind nach Halt suchend. Vergebens.
Die einstürzende Grabhöhle riss Abby Ericson mit sich in die Unterwelt, an den »Ort der Angst«, wie die Maya ihn genannt hatten.
In die Xibalbá .
Fast am Ziel, Anfang Dezember 2011
Drei Tage hatte ihre Reise nach Norden gedauert. Sie waren weiter mit Zügen und mit Bussen gefahren, nur über Dörfer, abseits aller Hauptstraßen und größeren Städte.
Ein Problem hatte es nur einmal gegeben, im Eurotunnel unter der Straße von Dover. Die Fahrt durch die fünfzig Kilometer lange Röhre, die sich unter dem Meeresboden zwischen Frankreich und England erstreckte, hatte Alejandro so unter Stress gesetzt, dass er förmlich ausgerastet war. Tom hatte nur mit Mühe ein Nachspiel verhindern können und mit Engelszungen auf das Zugpersonal und betroffene Fahrgäste eingeredet. Der Zugführer hatte trotzdem einen so genannten Vorfallsbericht verfasst, den sie bei der Ankunft in Kent unterschreiben mussten, bevor man sie ihre Weiterreise in den Norden Britanniens antreten ließ.
Jetzt lagen buchstäblich die letzten zweihundert Meter vor ihnen. Die gingen sie zu Fuß. Hinter ihnen entfernte sich das Taxi, das sie vom Bahnhof in Thurso hergebracht hatte. Der Fahrer hatte sie merkwürdig gemustert, weil sie praktisch mitten im Nichts auszusteigen wünschten. Aber der Kunde war König.
Der schmale Weg führte vor ihnen wie durch eine Schlucht. Eine dünne Schneedecke lag über allem: den vereinzelten knorrigen Eichen, den Felsen, dem Boden. Vom Atlantik, über dem ihr Ziel hoch auf der Felskuppe einer Steilwand thronte, wehte würziger Seegeruch heran.
»Wo sind wir hier?«, fragte Maria Luisa, eingemummt in ihre flauschige Winterjacke, die sie unterwegs noch gekauft hatten, als es auf dem Weg nach Schottland immer kälter geworden war.
»Wie gesagt«, erwiderte Tom, »an einem der sichersten, weil geheimsten Orte der Welt.«
Sein Blick wanderte wie der von Maria Luisa und auch Alejandro an den Mauern und mächtigen Wehrtürmen empor, die vor ihnen aufragten, von Zinnen gekrönt und mit Efeu bewachsen. Aller
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