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214 - Der Mann aus der Vergangenheit

214 - Der Mann aus der Vergangenheit

Titel: 214 - Der Mann aus der Vergangenheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael M. Thurner
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sich in ungewohnter Umgebung durchsetzen und unter allen Umständen den Respekt ihres Umfelds erarbeiten.
    Marie-Antoinette blieb stehen, auch wenn es immer ruhiger wurde. Mit trotzig verkniffenem Gesicht. Sie hob den Arm und winkte in die Menge. In seine Richtung. Ihr Gruß galt Jean-François. Niemand anderem.
    ***
    Rastlos widmete er sich einem Thema nach dem anderen, ohne Weg und ohne Ziel. Er ließ sich auf die Thesen des Engländers Joseph Priestley ein, der meinte, den immens wertvollen Stoff
    Phlogiston
    gefunden zu haben. Jene Substanz, von der man annahm, dass sie aus brennbaren Körpern entweiche oder bei Verbrennung in diese eindrang. Phlogiston sollte ein Bestandteil von Materie sein. Unsichtbar zwar, aber stets präsent.
    Bald langweilte sich de Rozier. Er fühlte, dass dieser Theorie kein langes Leben gegönnt sein würde. Das einzig interessante Überbleibsel aus Priestleys Forschung erschien ihm dieses geruchlose Gas, das er bei der Erhitzung von Quecksilberoxid separiert hatte. Vielleicht, vielleicht würde ihm diese Entdeckung irgendwann einmal weiterhelfen. Aber noch konnte er es nicht greifen, nicht spüren…
    Jean-François beschäftigte sich mit Kautschuk, der von Spaniern aus den Amerikas nach Europa verschifft wurde.
    Die gut formbare Masse stammte aus einem Baum! Sie wurde geerntet, welch Wunder der Natur! Er versuchte dem Rätsel des Milchsaftes, Latex genannt, auf die Spur zu kommen; weit über das hinaus, was Charles Marie de La Condamine seinem Freund Voltaire vor dreißig Jahren berichtet hatte. Vor wenigen Jahren hatte ein Engländer eine erste Nutzung für den Kautschuk gefunden. Der gomme löste Brot beim Ausradieren von handschriftlichen Aufzeichnungen ab, die mit Bister-Tinte oder mit Graphitstiften geschrieben wurden.
    Jean-François ließ mit den Geldern seines Schwiegervaters in spe, Justin de Balzac, Modelle anfertigen. Der Stoff versprach so viele unterschiedliche Nutzungsmöglichkeiten. Gesichtsmasken entstanden, die vor dem Rauch des Hausbrandes schützen oder die Atembeschwerden der Arbeiter in Kohlegruben lindern sollten. Er versuchte Schuhwerk aus Kautschuk zu fertigen. Bälle, mit denen Kinder spielten. Dünne Handschuhe. Bänder. Treibriemen. Kutschenräder…
    Vergeblich. Die Substanz verhielt sich widerspenstig und wollte partout nicht jene Form einnehmen, die er von ihr forderte. Bei großer Hitze fing sie an zu kleben, bei Kälte wurde sie zu spröde. Zehn, zwölf Jahre vielleicht, so ahnte Jean-François, würde er benötigen, um Versuche anzustellen, zu forschen, an Ort und Stelle die Gummibaumplantagen zu besichtigen und den Entstehungszyklus des Kautschuks zu beobachten.
    »Nein!«, rief er laut aus und trat gegen das Schreibpult.
    »Ich habe keine Zeit dafür!« Er fluchte gotteslästerlich.
    »Die Länge eines Menschenlebens ist zu kurz bemessen, um zu wissen, was man benötigt, um eine Universallehre zu verstehen und zu beherrschen.«
    »Ruhig, Petitjoli!«, sagte Isabelle. Sie löste sich aus dem Bett und schmiegte sich eng an ihn. Sie roch nach Schweiß und Sex und faulenden Zähnen. »Du bist zu ungeduldig. Gib mir noch eine Chance, mon chérie. Ich helfe dir, den Druck loszuwerden.« Ihre Hand wanderte unter sein Hemd. Schlangengleich glitt sie tiefer, sanft und dennoch gierig. Sie griff nach seiner Männlichkeit und streichelte sie mit Bedacht. »Isabelle weiß, wie sie mit Männern umgehen muss, wie sie Sorgen lindern kann…«
    »Lass das!«, fuhr Jean-François sie an. »Ich bin nicht in der Stimmung.«
    Die Hure, die meist im La Fée Verte (Umschreibung für Absinth) , einer gutbürgerlichen Stube zwei Häuser weiter auf Kundenjagd ging, zog ihre Hand zurück und zeigte ein schmollendes Gesicht. »Du verachtest mich!«, warf sie ihm vor. »Du denkst immer nur an deine Verlobte. An diese einfältige kleine Pute.«
    »Kein Mann sollte an eine Frau alleine denken«, widersprach Jean-François inbrünstig. »Ihr Weibersleute legt Trugbilder von Familienglück und Liebe über uns, wollt uns einfangen und beherrschen. – Nein, nein. – Mein Kopf muss frei bleiben von derartigen Schimären. Meine Liebe gilt ganz alleine der Wissenschaft. Für immer und ewig!«
    Isabelle griff zum Weinkrug, goss sich ein Glas ein und trank es in einem Zug aus, mit langjähriger Routine.
    »Weiß denn die kleine Magdeleine von diesen deinen Gedanken?« Sie grinste und entblößte zwei schwarze Zahnstumpen, die das sonst so hübsche Puppengesicht verunglimpften. »Weiß sie

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