214 - Der Mann aus der Vergangenheit
waren, weit über das Maß hinweg, das Vergessen allein ausmachte.
Er selbst wünschte sich immer öfter, vergessen zu können. In dunklen Stunden flog er in einer Rozière durch die Nacht, betrank sich sinnlos, schrie seinen Zorn auf Gott und die Welt in die Dunkelheit hinaus. Er erhoffte den Tod, wünschte ihn sich so sehr herbei.
Doch er wollte nicht kommen. Und das Leben, von dem er nie genug zu haben geglaubt hatte, verlor seinen Sinn.
Er ignorierte Dekadenzerscheinungen, die das Reich innerlich verrotten ließen. Er scherte sich nicht im Mindesten um die Aufzucht seiner Brut – von wenigen Ausnahmen abgesehen –, und schenkte den Kindern Städte, Dörfer, Ländereien, Geschmeide. Er vergab Pfründe an sie, erstickte damit jegliche selbstbewusste Eigenentwicklung bereits im Keim und ließ sie in Sorglosigkeit dahindämmern.
Victorius widerstand den Verlockungen.
Er ging seinen eigenen Weg, zeigte sich widerspenstig und störrisch, schuf sich eigene Werte, die Pilâtre de Rozier wütender und wütender werden ließen.
Und eifersüchtig.
Nun – das Problem löste sich von selbst. Eines Tages verschwand der Erstgeborene, wie von den Wolken verschluckt, mit einer Rozière.
Der Kaiser zog sich zurück und weinte.
***
Dann tauchte Naakiti auf. Die Schönheit aus dem Norden, die ein gnädiges Schicksal an den kaiserlichen Hof verschlagen hatte. Sie war… sie war…
… wie Lazefa.
Sie verzauberte ihn, schob seinen Wankelmut mit einer einzigen Handbewegung beiseite und brachte jene Eigenschaften zum Vorschein, von denen er gar nicht mehr wusste, dass er sie noch besaß.
Naakiti restaurierte ihn wie eine alte Maschine. Da und dort zog sie Schrauben nach, ersetzte ein paar Teile, erschuf Verbesserungen und putzte ihn schließlich so heraus, dass er wie neu dastand. Pilâtre de Roziers Sinne waren geschärft. Sie kehrten sich ab von all dem Tand, den er um sich angehäuft hatte, und konzentrierten sich wieder auf das Wesentliche. Sie richteten sich nach außen und sahen, fühlten, sahen, rochen, spürten, wie das Reich des Kaisers funktionierte. Pilâtre de Rozier war wieder Afra. Afra war wieder Pilâtre de Rozier.
13. Das Ende der Erzählung
»… und dies ist meine Geschichte, Monsieur Drax«, schloss der Kaiser. »Sie wissen nun, wie mein altes Leben endete und wie mein neues hier begann, am fünften April des Jahres 2474.« Er blickte aus einem der Fenster. Der Morgen dämmerte, und das Ziel Wimereux-à-l’Hauteur würde bald vom Luftschiff aus zu sehen sein.
Sie befanden sich in seiner luxuriösen Kabine in der kaiserlichen Rozière. Die Wolkenstadt Orleans-à-l’Hauteur lag fast eine Woche hinter ihnen zurück, und Pilâtre de Rozier hatte die Zeit damit gefüllt, dem Mann aus einer anderen Epoche – dem 21. Jahrhundert! – von seinem Leben zu berichten. So wie Drax es zuvor getan hatte. Ihrer beider Schicksale waren in einem entscheidenden Punkt identisch: Auch den blonden américain hatte eine mysteriöse Lichterscheinung weit in die Zukunft geworfen; vermutlich dieselbe, die auch ihn entwurzelt hatte.
Schon zu Beginn seiner Erzählung hatte sich de Rozier mit Matthew Drax in seinen Privatraum an Bord des Luftschiffs zurückgezogen. Die Informationen, die er preisgab, waren nicht für andere Ohren bestimmt. Nicht einmal für die seines Sohnes Akfat – der Spross einer Liaison mit einer syrischen Schönheit –, und erst recht nicht für die restliche Besatzung, die aus zwei Piloten, seinen Leibwächtern Tala und Rönee, dem Hauptmann Lysambwe, der Ärztin Dr. Aksela sowie Pierre de Fouché bestand, der nach Wabos Tod der neue Kriegsminister des Reiches sein würde.
De Rozier nippte nachdenklich an rotem Brabeelensaft.
»Ich habe Dinge offen und ehrlich gesagt, die für niemandes Ohren als die Ihren bestimmt sind. Nicht einmal Wabo, der in der Großen Grube umgekommen ist, Gott sei seiner treuen Seele gnädig, habe ich mich jemals derart weit geöffnet. Ich tat es in dem Bewusstsein, dass Sie und mich ein besonderes Schicksal verbindet.« Sie unterhielten sich in Englisch. Obwohl Drax leidlich Französisch beherrschte, hatte er Probleme mit der höfischen Sprache und ihrem vordemokratischen Pluralis Majestatis. »Uns trennen zwei Jahrhunderte – und dennoch sind wir Brüder im Geiste. Wir stammen aus einer Welt, die so ganz anders ist als diese hier, und wir versuchen das Beste daraus zu machen.«
»Es fällt mir schwer zu beurteilen, was Sie über die Jahrzehnte hinweg in Afra richtig
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