Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
2312

2312

Titel: 2312 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kim Stanley Robinson
Vom Netzwerk:
Diamantstaub: Angeblich konnte man einhunderttausend Sterne mit bloßem Auge sehen, wenn man sich im All befand. Swan kam es schwierig vor, das abzuschätzen, und wahrscheinlich handelte es sich bloß um eine Computerzählung, die die kleinste Größe miteinbezog, die für durchschnittlich gute Augen als wahrnehmbar galt. Ihr kam es vor, als wären es sehr viel mehr als hunderttausend.
    Die Sterne tanzten schwerelos auf und ab, sie wackelten, wenn Swan blinzelte und atmete. Sie konnte ihren eigenen Atem und ihren Herzschlag hören, und auch das Blut, das ihr durch die Ohren strömte. Ihr eigenes animalisches Rauschen im Raum, in der Zeit. Pulsschlag auf Pulsschlag. Da sie ein und ein drittel Jahrhundert gelebt hatte, hatte ihr Herz bereits um die fünf Milliarden Mal geschlagen. Das kam einem wie eine ganze Menge vor, solange man nicht anfing zu zählen. Das Zählen selbst implizierte eine begrenzte Dauer, was definitionsgemäß zu kurz war. Ein seltsames Gefühl.
    Aber seine Atemzüge zu zählen war auch ein buddhistisches Ritual, das auf dem Merkur zu einem Teil der Sonnenanbetung geworden war. Das hatte sie schon früher getan. Hier waren sie, im Angesicht des Universums, hinter den Mauern ihrer Raumanzüge und Leiber. Hörten den Leib, sahen die Sterne und die tiefschwarze Weite. Dort war das Sternbild Andromeda, und darin die Andromeda-Galaxis, eher ein verschmiertes Oval als ein dichter, kleiner Fleck. Aber wenn sie daran dachte, um was es sich handelte, konnte Swan die dritte Dimension manchmal sogar noch weiter in die Schwärze ausfalten – dann nahm sie nicht nur den vorderen Bereich wahr, der hier und da durch Sterne in verschiedenen Entfernungen punktiert war, bei denen man so tun könnte, als ließen sie sich anhand ihrer Helligkeit zuordnen, sondern sah auch Andromeda im Ganzen als Galaxis, die noch viel weiter entfernt war als alles andere für sie Sichtbare – wusch , da war er, der tiefste Raum, die Ausdehnung des Vakuums vor ihren Augen. Das waren Ehrfurcht gebietende Momente, und strenggenommen hielten sie nicht besonders lange an – das war einfach nicht möglich, dafür waren sie zu gewaltig. Das menschliche Auge und der menschliche Verstand waren nicht dafür ausgestattet, das Universum zu sehen. Sie wusste, dass es sich hauptsächlich um einen Sprung der Einbildungskraft handelte; aber wenn die Vorstellung zu dem passte, was sie in genau diesem Moment sah, wirkte es fast vollkommen real.
    Jetzt geschah es erneut, und sie war mittendrin: das Universum in voller Größe. 13,7 Milliarden Jahre der Ausdehnung, und es ging weiter; da sich die Ausdehnung tatsächlich sogar beschleunigte, mochte es sogar erblühen wie eine Sonneneruption und dabei alles zerstreuen, was in seinem Innern brannte. Es sah aus, als würde genau das im Moment passieren, vor ihren Augen.
    »Ich bin voll drauf«, sagte sie. »Ich sehe Andromeda als Galaxis, und sie stanzt ein Loch in die Schwärze, genau dort, als würde ich in eine neue Dimension sehen.«
    »Willst du ein bisschen Bach hören?«, fragte er. »Als Untermalung?«
    Sie musste lachen. »Wie meinst du das?«
    »Ich höre gerade Bachs Cello-Suite«, sagte er. »Die passt wirklich sehr gut zur Aussicht, finde ich. Willst du dich zuschalten?«
    »Klar doch.«
    Eine einzelne Cello-Stimme, getragen, aber gewandt, mäanderte durch die Nacht.
    »Wo hast du das her? Hat dein Anzug das?«
    »Nein, meine Armbandpad-KI. Die kann im Vergleich zu deiner Pauline nicht viel, aber das schon.«
    »Ich verstehe. Du trägst also eine schwache KI mit dir herum?«
    »Ja, genau.« Eine besonders ausdrucksstarke Bach-Passage erfüllte die Stille. Das Cello war beinahe wie ein dritter Gesprächsteilnehmer.
    »Hast du nicht etwas weniger Schwermütiges?«, erkundigte sich Swan.
    »Ich denke schon, aber ehrlich gesagt erscheint mir das hier ziemlich lebhaft.«
    Sie lachte. »Für dich schon!«
    Leise summend dachte er über ihre Antwort nach. »Wir könnten stattdessen Klaviermusik von Debussy hören«, sagte er, nach einer besonders tiefen Passage, in der das Cello mit einem Timbre gebrummt hatte, das so schwarz war wie das All. »Ich glaube, das wäre genau das Richtige für dich.«
    Das Cello wurde von einem Klavier ersetzt, dessen klare Glockenklänge durch Läufe flitzten und flossen und Melodien wie von Katzenpfoten auf Wasser erschufen. Debussy hatte wie ein Vogel gedacht, das konnte sie hören, und sie wiederholte pfeifend eine seiner Phrasen und flocht sie in die

Weitere Kostenlose Bücher