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Anblick, wie man es hätte erwarten sollen. Für einen Moment schlief Swan sogar ein. Als sie die Augen wieder öffnete, hatte sie den Eindruck, dass die Venus ein kleines bisschen größer geworden war. Das war nur logisch: Als sie das Schiff verlassen hatten, waren sie bereits mit hoher Geschwindigkeit unterwegs gewesen.
»Bist du noch da?«
»Ja, bin ich.«
Tja, dachte Swan. Da waren sie. Außer Warten gab es für sie nichts zu tun. Warten war noch nie ihre Lieblingsbeschäftigung gewesen. Normalerweise gab es immer mehr zu tun, als sie bewältigen konnte, weshalb sie es immer eilig hatte. Jetzt wurde ihr die Wartezeit bis zu ihrer Rettung lang. Als sie von Bord gegangen waren, hatte es geheißen, dass Raumschiffe in der Nähe waren. Vielleicht war Wahram in eine unvorhergesehene Richtung gestürzt; Swan war ihm gefolgt, ohne einen Gedanken an diese Möglichkeit zu verschwenden. Vielleicht verließen sie die Ebene der Ekliptik und damit auch den Bereich, in dem Schiffe unterwegs waren, die sie retten konnten. Vielleicht war die arme, zerstörte Jacht das einzige Schiff in der Gegend gewesen, und sie würden warten müssen, bis man alle anderen Flüchtlinge eingesammelt hatte. Höchstwahrscheinlich hatte die Zerstörung der kleinen Jacht die meisten Todesopfer bei dieser ganzen Sache gefordert, weshalb sie sicherlich Aufmerksamkeit erregen würde. Man würde wissen, dass nicht alle Leute eingesammelt worden waren; also würden sie weitersuchen; und diese Anzüge hatten leistungsfähige Sender. Wahrscheinlich ließ sich die Verzögerung am besten dadurch erklären, dass sie die Ebene der Ekliptik verlassen hatten. Oder vielleicht dauerte es einfach ein bisschen, alle einzusammeln. Die letzte Beschleunigung der ETH Mobile hatte vielleicht dazu geführt, dass sie zu dem Zeitpunkt, als die letzten Passagiere sie verlassen hatten, mit einer Geschwindigkeit unterwegs gewesen war, die die meisten Raumschiffe gar nicht erreichen konnten. Und für die von Bord Gegangenen galt natürlich dasselbe. Wenn alles so war, wie es sein sollte, dann würden alle Raumanzüge ihre Insassen für zehn Tage versorgen, und sie waren erst … wie lange? – sie musste Pauline fragen – zwanzig Stunden hier draußen. Es kam ihr länger vor, oder auch kürzer – sie wusste es nicht. Die Venus war eindeutig etwas größer. Swan erinnerte sich an Geschichten von Schiffbrüchigen, die man nicht gefunden hatte und die jahrtausendelang gefroren durchs All trieben. Wie vielen war es im Laufe der Geschichte schon so ergangen? Dutzenden, Hunderten, Tausenden? In ihrem Kopf hörte sie den Refrain eines alten marsianischen Liedes:
In Gedanken bei Peter trieb ich im Raum
Und hoffte man fände mich bald
Ach mach dir nichts vor
Du alberner Tor
Dein Grab ist dunkel und kalt
Zweifellos waren viele dieser Unglücklichen bis zum letzten Moment in der Hoffnung dahingetrieben, dass man sie retten würde. Die Hoffnung zerrinnt langsamer als Luft und Nahrung in Raumanzügen; wahrscheinlich hatten sie an die Geschichte von Peter gedacht, der um den Mars kreiste, oder an irgendeinen anderen Schiffbrüchigen, der gerettet worden war, und fest daran geglaubt, dass gleich ein kleines Raumschiff auftauchen und wie ein UFO über ihnen schweben würde, wie eine vom Himmel gesandte Erlösung, wie das Leben selbst. Aber für viele war die Rettung niemals gekommen, und irgendwann hatten sie sich eingestehen müssen, dass die Wirklichkeit etwas anderes war als die Geschichten, oder zumindest ihre Wirklichkeit. Für andere waren die Geschichten wahr geworden, aber nicht für sie; die anderen waren die Erwählten, sie waren die Verlorenen. Die Vergessenen. Wie in dem schonungslosen marsianischen Lied.
Vielleicht würden diesmal auch sie zu den Vergessenen gehören. Swan rappelte sich auf, hörte den offenen Kanal ab, auf dem allseitiges Gebrabbel herrschte; sie schaltete auf den Notkanal und setzte krächzend einen Bericht ab, einen Hilferuf. Etwa eine halbe Stunde später kam eine Antwort: Man hatte sie auf dem Radar, und ein Rettungsschiff war zu ihnen unterwegs; sie befanden sich tatsächlich außerhalb der Ebene der Ekliptik, und alle Reaktionsteams waren beschäftigt. Aber man hatte sie auf dem Schirm und früher oder später würde Hilfe eintreffen.
Also … schau dich um. Erzähl es Wahram, mach ihm Mut. Versuch, dich zu entspannen.
Sie war nicht entspannt. Ein hilfloses Entsetzen überkam sie, als würde ihr Blut zu kochen beginnen. Pauline würde es
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