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2312

2312

Titel: 2312 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kim Stanley Robinson
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darauffolgenden Passagen ein. Nicht leicht. Sie hielt inne. »Sehr hübsch«, sagte sie.
    Er drückte ihre Hand. »Ich wünschte, ich könnte mit dir mitpfeifen, aber das geht nicht.«
    »Warum nicht?«
    »Ich kann mich zu schlecht erinnern. Wenn ich es höre, überrascht es mich jedes Mal. Ich meine, ich erkenne es, wenn ich es höre, ich habe es zehntausendmal gehört, aber wenn ich es nicht gerade laut höre, könnte ich dir die Melodie nicht aus dem Gedächtnis vorpfeifen, sie ist zu … zu schwer zu fassen, schätze ich, oder zu subtil. Flüchtig. Unerwartet. Und die Töne scheinen sich nie zu wiederholen. Hör mal … die Musik macht immer wieder etwas Neues.«
    »Wunderschön«, sagte sie und pfiff einen weiteren Nachtigallen-Diskant.
    Nach einer ganzen Weile stellte er die Musik ab. Die Stille war immens. Einmal mehr konnte sie ihren eigenen Atem hören, das Pochen ihres Herzens. Es klopfte in seinem Doppelrhythmus vor sich hin, ein wenig schneller als normalerweise, aber es raste nicht mehr. Beruhige dich, dachte sie einmal mehr. Du bist schiffbrüchig im Weltall, man wird dich früher oder später retten. Bis dahin bist du hier, und Wahram ist bei dir, und Pauline. Kein Augenblick unterscheidet sich jemals grundlegend von diesem. Konzentrier dich, und bleib ruhig.
    Zu behaupten, dass jemand so oder so ist, war vielleicht bloß der Versuch, eine Erinnerung an eine Tafel zu heften, auf der man seine Erinnerungen sortierte, wie Schmetterlinge in der Sammlung eines Lepidopterologen. In Wirklichkeit handelte es sich dabei nicht um die Verallgemeinerung, als die es erschien, sondern um einen Schuss ins Blaue. War Wahram auch nur ansatzweise so, wie sie ihn beschrieben hätte, wenn sie etwas über ihn zu sagen versucht hätte? Er war so, er war so … eigentlich wusste sie es nicht. Man erhielt Eindrücke von anderen Menschen, mehr nicht. Man hörte sie niemals denken, man hörte nur, was sie sagten; es war ein Tropfen im Meer, eine Berührung über einen weiten Abgrund hinweg. Eine Hand, die die eigene festhält, während man in der Schwärze des Alls treibt. Das war nicht viel. Sie konnten einander eigentlich nicht besonders gut kennenlernen. Also sagte sie, dass er so wäre, oder so, und bezeichnete das als seine Person. Sie maßte sich ein Urteil an. Es war so eine Raterei. Man hätte jahrelang mit einem Menschen reden müssen, um die eigene Einschätzung auch nur ansatzweise zu validieren. Und selbst dann würde man es nicht wirklich wissen.
    Wenn ich bei dir bin, sagte sie in Gedanken zu Wahram, während sie dort zusammen durchs All trieben, warteten, sich bei den Händen hielten – wenn ich bei dir bin, dann fühle ich mich etwas verängstigt; beurteilt; unzulänglich. Ich bin nicht die Sorte Mensch, die du magst, was ich als Angriff empfinde, weshalb ich mich umso mehr so verhalte, wie dieser Teil von mir ist. Obwohl ich auch will, dass du eine gute Meinung von mir hast. Aber dieses Bedürfnis empfinde ich als Ärgernis, und deshalb widersetze ich mich ihm innerlich. Warum sollte es mich kümmern? Dich kümmert es ja auch nicht.
    Dabei kümmert es dich sehr wohl. Ich liebe dich, hast du gesagt. Und – das gestand Swan sich ein – sie wollte, dass er so empfand, wenn er mit ihr zusammen war. Genau so – war das Liebe, dieser Wunsch nach einem Gefühl, das unscharf blieb, selbst wenn man es verspürte? Betrachteten die Leute sie deshalb manchmal als eine Art von Wahnsinn? Die Worte bleiben sich gleich, sogar die Gefühle bleiben sich gleich, aber zwischen den Worten und den Gefühlen gibt es Abweichungen, die man nur schwer im Blick behalten kann. Der Wunsch zu kennen, gekannt zu werden, um seiner selbst willen geschätzt zu werden und nicht um dessentwillen, was man nach Meinung der Leute sein sollte … sondern vielmehr dafür, was man war … es fiel ihr schwer, nicht zu glauben, dass jemand, der sie liebte, einen großen Fehler beging. Weil sie sich selbst nämlich besser kannte als die anderen und deshalb wusste, dass sie ihr ihre Liebe irrtümlich schenkten. Und deshalb mussten sie wohl auf die eine oder andere Art dumm sein. Und trotzdem war es genau diese fehlgeleitete Liebe, die sie wollte. Jemand, der einen mehr wollte, als man selbst sich wollen würde. Jemand, der einen wollte, obwohl man man selbst war, jemand, der mehr Nachsicht mit einem hatte als man selbst. So war Alex gewesen. Und wenn man das erkennt, wenn man das spürt – wenn man sich über das gerechtfertigte Maß hinaus geliebt

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