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selben Abend sah Wahram sie in seinem Restaurant; da auch sie viel reiste, praktizierte sie wahrscheinlich auch eine Form des Pseudoiterativs; das war ein ganz natürlicher menschlicher Drang. Wahram aß am Nachbartisch und ging anschließend Geschirrspülen, doch obwohl er ihr höflich zunickte, sprach sie kein Wort. Als er in der Küche fertig war und wieder rausging, um noch etwas zu trinken, war sie fort. Am anderen Ende der Straße brannte wieder das Freudenfeuer, und die Tänzer tanzten.
Der zweite Tag beinhaltete also einige Elemente neuer Gewohnheiten; doch am Tag darauf flog Wegener dicht an der Venus vorbei und benutzte sie als Gravitationsanker, um sich schneller in Richtung Jupiter zu katapultieren. Wahram fuhr mit der Tram Richtung Bug und zog sich an Handsprossen durch einen Gang, in dem praktisch Schwerelosigkeit herrschte, in den Aussichtsraum, der wie eine Blase am vorderen Ende des Asteroiden hing. In diesem Raum konnte man jederzeit das halbkugelförmige Sternenpanorama betrachten, das sich über einem erstreckte – und dort, sichtlich größer werdend, hing die Venus vor ihnen. Wahram, der zu Hause eine Menge Zeit in Mikrogravitationen wie dieser verbrachte, hielt sich ohne Schwierigkeiten mit nur einer Hand in einer Halteschlaufe im Gleichgewicht. Er konnte es kaum erwarten zuzusehen, wie der zweite Planet unter ihnen vorbeiziehen würde. Kurz vor dem letzten Stück ihrer Annäherung kam Swan herein, wie immer spät und in Eile.
Die Atmosphäre der Venus war im Vergleich zum ursprünglichen Zustand so ausgedünnt, dass sie nun durchsichtig war, und obwohl der gesamte Planet im Schatten eines Sonnenschilds lag, weshalb auf ihm permanent Nacht herrschte, konnte man die blassweißen Trockeneismeere und den schwarzen Fels der beiden Kontinente sehen, die mit Maschinen und Gebläsen teilweise freigelegt worden waren. Wolkenmuster, wie man sie von der Erde oder vom Mars kannte, wirbelten über verschneiten Ebenen und den Trockeneisozeanen und erzeugten so eine Art Graumelierung, deren Anblick der Verstand nicht so recht verarbeiten konnte, sosehr man sich auch anstrengte. Der Aussichtsraum hallte von erstaunt und verwirrt klingenden Ausrufen wider. Das menschliche Auge kam einfach nicht besonders gut damit zurecht, wenn die hoch gelegenen Regionen schwarz und die tiefer liegenden weiß waren, und außerdem war die ganze Sache ohnehin noch komplizierter. Selbst aus unmittelbarer Nähe handelte es sich bei der Venus nach wie vor um ein einziges Wirrwarr aus Sprenkeln. Sie näherten sich in schrägem Winkel der Planetenoberfläche, und dann sauste Wegener direkt oberhalb der Atmosphäre an ihm vorbei, um den Schleudereffekt voll auszunutzen. Unter ihnen zog eine Ansammlung von Lichtern vorbei, von denen einige behaupteten, dass es sich um Port Elizabeth handelte. Ganz in der Nähe befand sich eine Stadt namens Billie Holliday, wo Wahram einmal in einem riesigen Waldo gearbeitet und das Trockeneis in den Tälern mit Steinschaum bedeckt hatte. Ähnliches wurde derzeit auf dem Titan gemacht. Venus und Titan waren die beiden besten verbleibenden Kandidaten, um sie dem Mars als vollständig terraformte Welten beizustellen – manche bezeichneten sie als Hemdsärmel-Welten, mit für Menschen atembaren Atmosphären an der Oberfläche. Am Beispiel Mars sah man, wohin das führen konnte: zu einer unabhängigen neuen Welt, frei von all den Sorgen der alten.
Swan tanzte für sich allein. »Ich will zurück«, sang sie niemandem im Besonderen, oder vielleicht ihrem Qube, zu. »Ich will den giftigen Wind spüren, der über die giftige See peitscht.«
Die Venusianer waren vor dem Schleudermanöver von Bord gegangen, weshalb es in Wegener nun nicht mehr so interessant war, was die Menschen anging. Keine Freudenfeuer mehr, keine durchtanzten Nächte. Wahram verbrachte die meisten Tage im Naturpark; das wurde zum Herzstück dieses Pseudoiterativs. Sie versuchten, die Vögel und Säugetiere zu zählen. Oft sahen sie dort draußen Swan, die für sich allein umherlief. Offenbar schlief sie auch dort, und eines Abends in der Küche erklärte sie, dass sie, wenn es sich vermeiden ließ, niemals drinnen schlief, obwohl in gewisser Weise natürlich das ganze Terrarium ein Innenraum war. Draußen im Park entdeckte er auch Hinweise darauf, dass sie versuchte, sich einen Teil ihres Essens selbst zu fangen. Einmal stießen sie auf ein Kaninchen, das in einer kleinen Schlinge am Ufer des Bachs gefangen war, der sich
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