2365 - Die Drokarnam-Sphäre
Riss. Das Hypermineral hat nicht mehr dieselbe Kraft wie früher. Ich könnte der Falle 'entkommen. Der Makel an meinem Mausoleum könnte mir den Weg nach draußen ermöglichen.
Ich kann mein Gefängnis von wenigen Metern Durchmesser nach Jahrtausenden verlassen. Ein Gedanke von so überwältigender Intensität, dass ich mich am liebsten wieder in die Bewusstseinslosigkeit flüchten würde.
Day-Drazin ... warum nicht wieder zu Day-Drazin werden und den quälenden Gedanken ausweichen?
Weil das Glück, auf mich wartet.
Weil ich frei sein kann. Frei.
Ich wage einen ersten, zaghaften Vorstoß in den Haarriss hinein. Ich kann nach draußen blicken. Licht. Farben. Es ist Nacht, und doch ist alles farbig. Milliarden Erinnerungen tosen aus der Verborgenheit nach oben. Das Blau des Himmels, das Grün des Waldes, das Braun des Bodens, das Grau der Steine; jede einzelne Farbe in tausend Variationen..
Der Anblick des Himmels erinnert mich an den Duft der Nacht, an die Stille, an die Erhabenheit. Ein Tier ruft. Im Boden wimmelt es von Leben.
Nach einem Sekundenbruchteil ziehe ich mich entsetzt und überwältigt zurück.
Ich filtere aus den Millionen Informationen diejenige heraus, die alles erklärt. Nicht nur in meiner Sphäre hat sich etwas geändert, sondern im ganzen Kosmos. Eine grundlegende Konstante der Natur hat sich verschoben.
Die Veränderungen sind an allen Orten gewaltig. Doch die wichtigste von allen hat sich direkt vor meiner Sphäre abgespielt.
Ein Notfallenergiespeicher im Zugangsstollen ist explodiert. Die Druckwelle hat die Konstruktion meines Mausoleums minimal beschädigt. Die geschlossene Sphäre hat sich verschoben, Millimeter tiefer in den Fels geschoben - und ist dabei an einer Stelle, die ich mit den Augen meines Körpers kaum hätte sehen können, gerissen.
Mein Körper ... ich sehe ihn ein letztes Mal an.
Leb wohl, Inday Anuun-Drazin, verkrüppelter Leib, der mich einst beherbergte. Ich werde fliehen. Nichts mehr soll mich an dich erinnern. Nun endlich, mit einer Verzögerung von mehr als fünf Jahrzehntausenden, liegt mein neues Leben vor mir.
Ich schlüpfe durch den Riss. Das Drokarnam will mich zurückzerren, aber ich setze dem Druck Widerstand entgegen und entkomme.
Dann, von einer Sekunde zur anderen, bin ich frei.
Ich rase durch den Tunnel, schieße hinaus in die Nacht, erfülle nicht nur wenige Meter, sondern breite mich aus, erweitere mich, vergrößere mein Bewusstseinsfeld stetig.
Es ist herrlich. So überwältigend.
Als ich begreife, was ich getan habe, schreit alles in mir. Ich kann es nicht fassen. Der Schock holt Day-Drazin aus der Tiefe, und er löscht mich nicht etwa .aus, sondern vereint sich mit mir.
Endlich, endlich finde ich wieder zu einem harmonischen Ganzen.
Inday Anuun-Drazin ist endgültig gestorben.
Es lebe Day-Drazin.
*
Ungehemmtes Glück.
Ich durchstreife die Drokarnam-Vorkommen des Sonnendodekaeders. Ich wachse und gedeihe, assimiliere Kräfte aus dem Kosmos selbst. Das natürliche Psionische Netz ist eine Quelle unendlichen Labsals.
Welche Herrlichkeit das Leben bereithält.
An vielen Stellen im Bereich der, zwanzig Sonnen existiert Drokarnam, meist in Form von technischen Funktionseinheiten von meinem Volk verbaut. Diese Stellen geben mir Halt und bilden den Anker meiner Existenz.
Oft denke ich an mein Volk. Was wohl aus den Lemurern geworden ist und aus ihren Feinden, den Halutern? Ich weiß nur, dass sich im Bereich des Sonnendodekaeders kein einziges Lebewesen aufhält, das zu den Lemurern oder Halutern gehört.
Wohl gibt es auf den Planeten tierische Existenzen, auf deren Bewusstsein und Lebensenergie ich zugreifen könnte, wenn ich wollte - aber warum sollte ich das tun?
Der Kosmos bietet auf den Milliarden Kilometern, die der Sonnentransmitter umschließt, mehr als genügend Wunder, um sich eine Ewigkeit damit zu beschäftigen.
Einst hielt ich den Raum zwischen den Sternen für leer; wie unwissend ich doch war. Kraftströme pulsieren, Teilchen durchstreifen das angebliche Vakuum.
Ich wachse weiter und weiter. Nur noch selten denke ich an Inday Anuun-Drazin.
Ich bin Day-Drazin, und als solcher werde ich weiterleben, bis eines Tages der Kosmos vergeht, um neu geboren zu werden. Vielleicht werde ich dann eines der Aktionsquanten sein, das neues Leben schafft. Allein über diese Frage und Möglichkeit lohnt es sich ein Äon lang nachzudenken, während ich mich ausbreite.
Das Drokarnam ist inzwischen nur noch Anker und Orientierung
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