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2378 - Der Erste Kybernetiker

Titel: 2378 - Der Erste Kybernetiker Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Unbekannt
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Umgebung stellte nach wie vor die Gedankenkammer dar, und er lag in einem Kreuzkokon. Zumindest tat er das in einer bestimmten Ebene der Wirklichkeit, die er für gewöhnlich als Realität bezeichnete, weil seine Sinne sie in jedem Augenblick des Lebens aufnahmen. Auf einem anderen Niveau, dem einzigen, das in diesen Momenten zählte, schwebte Dr. Laurence Savoire in einem Raum ohne Grenzen, der nur aus sich selbst heraus definiert wurde und aufgrund der Tatsache Gestalt gewann, dass eine Struktur existierte.
    Savoire sah an sich hinab, und obwohl er keinen Körper mehr besaß, existierte doch etwas, irgendetwas, das an ein stoffliches, materielles Sein erinnerte. Allerdings war dieser bloße Gedankenschatten nicht Savoires eigentlicher Leib, denn dieser lag im Kreuzkokon, in der Gedankenkammer des ESCHER-Gebäudes, in Terrania, der Hauptstadt des dritten Planeten des Solsystems in der Milchstraße. Ganz nah und doch in unendlicher Ferne: einen Gedanken weit weg.
    Die Unendlichkeit präsentierte sich hell.
    Geradezu strahlend, von überirdischem Gleißen durchdrungen und erfüllt von einem sirrenden, melodiösen Klingen, das der Besucher nicht akustisch wahrnahm, denn er besaß keine Ohren, die einen realen Laut hätten auffangen können.
    In dieser Helligkeit und dem Klingen trieb Laurence Savoire weiter, und das Licht durchflutete ihn. Ein angenehmes Gefühl und alles andere als das, was er erwartet hatte. Erwartet? Hatte er tatsächlich etwas erwartet? Wenn ja, waren alle Hilfskonstrukte nichts gegen die Gewalt der Offenbarung, die ihm nun zuteil wurde.
    Der Besucher schwamm weiter durch das Licht. Es pulsierte, als bewege er sich durch ein gigantisches Herz, das mit Leben gefüllt war, dessen Rhythmus er mit seinem eigenen Körper bestimmte. Doch all sein kybernetisches Wissen und seine jahrelange Studien hatten ihn nicht auf diesen Moment vorbereitet und konnten ihm eine drängende Frage nicht beantworten - die Frage, die da lautete: Auf welche Weise bleibe ich als Teil des ESCHER-Netzwerkes mit meinem Körper?
    Verschmolzen mit ESCHER.
    Allgegenwärtiges, unüberschaubar verästeltes Gittermuster im Licht.
    Ein Schaltplan.
    Oder der Abdruck eines Schaltplans in einem höher dimensionierten Medium.
    Wo die Streben des Gitters sich kreuzten oder gleich mehrere Verästelungen aufeinandertrafen, sprühte grelles Licht.
    Savoire war bewusst, dass er fremdartige Eindrücke so verarbeitete, wie es ihm möglich war. Diese flackernden Knotenpunkte mochten Synapsen sein, die den Fluss von Informationsquanten darstellten. Sie illuminierten alles, bildeten die eigentlichen Lichtquellen. Und einige von ihnen waren belegt. Etwas bewegte sich darin, und davon gingen pulsierende Impulse aus, die das Netzwerk durchdrangen und mit Leben erfüllten.
    Mit Leben. Dr. Savoire entdeckte, dass er sich willentlich bewegen konnte, als schwimme er durch zähen Sirup. Er schob sich auf eine Schnittstelle zu, und ihn schauerte, als er sah, woraus das Leben in diesen Schnittstellen bestand. Es wurde vom Tod geboren. Vergangenes gebar Existenzen; Leichen schufen neues Sein.
    Der Besucher sah einen menschlichen Körper. Die Leiche schwebte schwerelos in der imaginären Gitterstruktur. Sie drehte sich um sich selbst, langsam, in einer zeitlosen und unendlichen Rotation gefangen. Dieses Totenabbild besaß einen fast kahlen Schädel; nur ein schmaler Haarkranz lief um den Kopf. Die Gesichtshaut glänzte, und der Mund, den Savoire seit Jahren bissige Bemerkungen hatte sprechen hören, stand halb offen. Die Augen blickten in das umgebende Licht, aber sie waren starr. Die Arme waren ausgebreitet, als befände sich der Leib nach wie vor in der Gedankenkammer, im Dienst als Prozessor, in der Pose, die an einen Gekreuzigten erinnerte.
    Savoires Seele begann zu frieren. Der Tote vor ihm war niemand anderes als Rodin Kowa. Rodin Kowa, der nicht an diesem Ort sein konnte, weil seine leiblichen Überreste schon vor zwei Tagen in eine Leichenhalle transportiert worden waren.
    Während Savoire an dieser Schnittstelle vorbeitrieb und seinem quälend langsam trudelnden ehemaligen Vorgesetzten einen letzten Blick zuwarf, erkannte er die Wahrheit. Natürlich befand sich Kowa nicht in einem materiellen Sinn in der gleißenden Gitterstruktur ... ebenso wenig wie sich Savoires eigener Leib durch das unendliche Licht bewegte. Dennoch waren beide anwesend.
    Savoire erreichte das nächste Totenlicht, die nächste Schnittstelle, die von einem Gestorbenen besetzt war.

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