328 - Flucht aus dem Sanktuarium
zappelnden Hände, die abseits der Flöße immer wieder auftauchten und untergingen, auftauchten und untergingen.
Keiner außer Matthew Drax. Ohne lange zu überlegen, kletterte er über den Rand der Cockpitöffnung und sprang in die Wogen. Mit kräftigen Zügen kraulte er auf den Punkt zu, an dem er den Kopf des Ertrinkenden zuletzt gesehen hatte.
Als er ihn erreichte, war da nichts mehr. Nur eine einzelne bunte Feder, die auf den Wellen trieb. Eine Feder, wie die Freundin von Pedró sie in ihren Haaren trug.
Matt tauchte kopfüber hinab. Und entdeckte schließlich Salma, deren bleicher Körper weit unter ihm trieb. Ihre schwarzen Locken umwölkten ihr Gesicht.
Matthew tauchte tiefer hinab. Seine Lungen brannten, die gerade verheilte Verletzung an der Schulter machte sich wieder bemerkbar. Er kämpfte mit dem Bedürfnis, Luft zu holen. Griff mit der Linken nach dem Arm der Frau und zog Salmas Körper an sich. Dann tauchte er aufwärts. So weit schien die rettende Oberfläche entfernt, so unendlich fern. Sein Brustkorb war ein einziger Schmerz und seine Kraft schwand mit jedem Meter, den er mit seiner leblosen Last zurücklegte.
Das Grünblau um ihn verblasste zu dreckigem Grau. Die Konturen der Wasseroberfläche über ihm verschwammen und ein mächtiges Brausen erfüllte seinen Schädel. Er verlor die Orientierung. Immer noch Salmas Körper umklammert, trieb er ab.
Vertraute Gesichter zogen im Geiste vorbei. Aruula und Rulfan. Und Xij, immer wieder Xij. Mit diesem geheimnisvollen Lächeln in ihren grünen Augen. Jetzt schwebte das geliebte Gesicht direkt auf ihn zu. Ganz nah. Besorgt sah es aus. Und hinter Xij tauchte noch ein weiteres Gesicht auf: das von Pedró.
Matt spürte noch, wie er gepackt, wie Salma aus seinen Armen gerissen wurde. Dann spürte er nichts mehr.
***
Clarktown, Februar 2528
Das Gewehr des toten Jungen in der Klauenhand, lauschte Grao’sil’aana dem Lachen und Grölen der Soldschers. Sie saßen am anderen Ende der Halle an einem Feuer und tranken. Offenbar hatte keiner von ihnen bemerkt, was hier vor sich ging. Er hatte noch nie verstanden, was diese Primärrassenvertreter an Alkohol fanden. War ihm eigentlich auch egal. Und im Moment kam ihm der Umstand mehr als gelegen.
Er hatte sich das Aussehen des toten Soldschers in allen Details eingeprägt. Nun verschob er seine Myriaden winzigster Schuppen und nahm dessen Gestalt an. Um den Überfluss an Körpermasse unterzubringen, formte er zur Kleidung auch noch einen Tornister; ansonsten hätte er Größe oder Leibesfülle verändern müssen.
Bevor er sich von dem Aufzugsloch abwandte, schaute er noch einmal in die dunkle Tiefe hinab. Er dachte an die Schwestern und den Deary, die unten darauf warteten, dass er sie hochziehen würde.
Doch welchen Grund gab es noch, das zu tun? Im Gegenteil: Ohne sie von hier zu verschwinden, erschien ihm wesentlich Erfolg versprechender. Wenn er damit anfing, das Stahlseil einzurollen, musste das unweigerlich die anderen Soldaten auf den Plan rufen.
Noch besser war es, Vorsorge zu treffen, dass das Trio nicht aus eigener Kraft hier herauf gelangte. Nach kurzem Überlegen reckte er sich, löste die Sicherungen der Kabeltrommel und ließ sie aus der Verankerung nach unten stürzen. »Der liebe Grao sagt lebt wohl«, flüsterte er ihr hinterher.
Da hörte er die Rufe vom anderen Ende der Halle. »Ey, Bentley, was ist da los?« Ein fetter Mann näherte sich schnaufend. Hatte er gesehen, wie er die Seiltrommel aus ihrer Verankerung gelöst hatte?
Grao lief ihm in Ben Bentleys Gestalt entgegen. »Alles in Ordnung«, sagte er. »Habt ihr noch einen Drink für mich?« Er wollte den Arm um die Schultern des Dicken legen und ihn zurück zum Feuer lenken, aber offenbar hatte er etwas Unsinniges gesagt, denn Bentleys Kamerad blinzelte irritiert.
»Was sind denn das für neue Töne?«, fragte er misstrauisch. »Erst machst du einen auf Mustersoldscher und läufst brav deine Runden, und jetzt willst du mitsaufen?« Der Fette starrte ihn an, als wäre der vermeintliche Bentley nicht bei Trost. Dann plötzlich brach er in schallendes Gelächter aus. »Du willst mich verarschen!« Grölend klopfte er sich auf die Schenkel. »Hast ja doch Humor, du steifes Brett!«
Grao wusste nicht, was ein Brett mit dem Konzept »Humor« zu tun hatte, das ihm nach all den Jahren unter Menschen immer noch ein Rätsel war. Er wusste nur, dass sein unauffälliger Abgang in Gefahr war. Den Soldscher zu töten wäre ihm ein Leichtes
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