Krank für zwei
1
Es war genau so, wie wir es im Geburtsvorbereitungskurs gelernt hatten. Schmerzen im Bauchraum, die nach unten ziehen. Ich versuchte, ruhig zu atmen. Mich zu entspannen. Schon hörte ich die Stimme von Gerhild in meiner Erinnerung. Gerhild war die Leiterin unseres Schwangerschaftskurses gewesen, und Gerhild war eine Meisterin, wenn es darum ging, Entspannung zu verbreiten. »Stell dir vor, du bist ein Wal!« Gerhilds Stimme hatte immer so etwas Hypnotisches gehabt. »Du bist ein Wal und schwimmst durchs Wasser.« Wo sonst, hatte ich mich an dieser Stelle immer gefragt. »Du bist groß und schwer.« Das wiederum hatte ganz gut auf mich gepaßt. »Und trotzdem wirst du von den Wellen getrieben.« Hier war meistens der Punkt gewesen, an dem ich eingeschlafen war. Als ich einmal besonders laut geschnarcht hatte, hatte Gerhild mich geweckt. Das war schon etwas peinlich gewesen. Gerhilds vorwurfsvoller Blick hatte mir zudem klar gemacht, daß ich unter diesen Voraussetzungen nie zur Elite der Wal-Eltern gehören würde.
Schon wieder durchzuckte mich der Schmerz. Ich krümmte mich. Davon war nie die Rede gewesen. Natürlich war mir bewußt, daß eine Geburt Schmerzen mit sich brachte. Für die Mutter! Aber doch nicht für den Vater! Oder hatte sich auch das in den letzten Jahren geändert?
»Vincent! Was ist denn mit dir los?« Endlich, Alexa war zurück. Sie würde mich retten. Schließlich war sie Tierärztin. Die kennen sich mit Walen aus.
Alexa kam mit besorgtem Blick auf mich zu und setzte sich auf den Rand unserer Couch.
»Hast du Schmerzen?«
»Wehen!« wollte ich gerade sagen, aber etwas hielt mich zurück. Alexa sollte mich nicht für verrückt halten. Ich wollte auch weiterhin als würdiger Vater unseres Walbabys gelten.
»Mein Bauch«, stöhnte ich. »Ich habe furchtbare Bauchschmerzen.«
»Hast du dir den Magen verdorben?«
»Woher soll ich das wissen?«
»Wie lange hast du die Schmerzen schon?«
»Ein paar Stunden.«
»Übertreib nicht, ich bin erst seit zweieinhalb Stunden weg. Und vorher warst du noch putzmunter!«
»Zwei Stunden und fünfundzwanzig Minuten.«
»Wo tut es denn weh?«
Ich strich über meinen Bauch. »Hier überall.«
Alexa stand auf, zog sich ihre Jacke aus, so daß ihr Schwangerschaftsbauch gut sichtbar war, und kniete sich neben mich auf die Couch.
»Tut es hier weh?«
Ich brüllte und entschied, daß ich doch kein Wal war. Ich war ein sensibles männliches Geschöpf. Und ich mußte liebevoll untersucht, nicht aber von einer Tierärztin grausam zerquetscht werden.
»Hier auch?«
Ich brüllte wieder. »Du bringst mich um!«
»Ich tippe auf Blinddarm«, sagte Alexa schonungslos. »Und zwar ein ziemlich entzündeter. Zieh dich an, ich fahre dich ins Krankenhaus.«
»Aber das geht nicht«, widersprach ich. »Du bist hochschwanger. Unser Kind kann jeden Moment zur Welt kommen.«
»Eben«, sagte Alexa. »Und da kann ich einen wimmernden Ehemann an meiner Seite nicht gebrauchen. Dann schon eher einen ohne Blinddarm.«
Ach, die Sauerländer sind ja so pragmatisch. Wie klappte das nur mit Alexa und mir? Ich ein feinfühliger, temperamentvoller Rheinländer. Und Alexa, meine Alexa, eine Sauerländerin. Eine Sauerländerin wie Sauerländer eben so sind. Und inzwischen hatte ich sie ganz gut kennengelernt, die Sauerländer, nachdem mich vor gut zwei Jahren eine Lehrerstelle an einer katholischen Privatschule hierher gelockt hatte.
Wie hatte mein Kölner Freund Robert damals noch gelästert? Man müsse erst ein 50 Liter-Pilsfaß den Kahlen Asten hinaufschleppen, bevor man als Zugezogener im Sauerland akzeptiert würde. Nein, so schlimm war es gar nicht. Man mußte lediglich 50 Liter von diesem Pils-Gebräu hinuntergewürgt haben, bevor man als vollwertiger Mensch anerkannt wurde. Während ich mich vom Sofa hoch quälte, kam mir ein interessanter Gedanke. Was war unser Kind eigentlich, wenn es das Licht der Welt erblickte – ein echter Sauerländer (oh Gott, darauf mußte ich nach der Geburt erstmal ein Kölsch trinken) oder ein Rheinländer, der zufällig am falschen Ort auf die Welt gekommen war? Ich konnte nicht länger darüber nachdenken, denn kaum war ich aufgestanden, fuhr mir der Schmerz quer durch den Körper. Ich krümmte mich erneut.
»Schaffst du es zum Auto?« Alexas besorgter Blick holte mich in die Wirklichkeit zurück. »Sonst rufe ich einen Krankenwagen.«
»Bist du verrückt?« Ich versuchte mich aufrecht hinzustellen. Das fehlte noch. Ich wußte doch, wie
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