616 - Die Hoelle ist ueberall
jene frü-hen Anhänger Christi vergessen hatten, konnte just das Wesen sein, das der griechische Philosoph Platon den Demiurgen genannt hatte und den später die Gnostiker aufgriffen und in den Bösen verwandelten. Den Gnostikern zufolge hatte der Demiurg die Menschen zu Sklaven der Materie und ihrer Leidenschaften gemacht. Sie glaubten, Seele und Körper be-fänden sich in einem harten, ewig währenden Kampf. Die Hölle bestehe in der Ferne zum Himmel. Und durch ihre Ferne zur Herrlichkeit sei die Erde eben diese Hölle. Nur durch die Liebe könne der Mensch erlöst werden, indem er sich von den Ketten des Materiellen befreie.
Viele Katholiken beklagen sich bitterlich darüber, dass sie von der Bibel nicht mehr als das Neue Testament lesen. Oft beneiden sie die Protestanten, welche sich nach Maßgabe ih-rer eigenen Deutung von der Heiligen Schrift führen lassen. Doch die Katholiken, die diesen Mangel verspüren, ignorieren im Allgemeinen, dass der Gott des Alten Testaments ein strenger, rachsüchtiger, sexistischer und unversöhnlicher Gott ist, der die Menschen täuscht, bestraft, verflucht und aus-löscht. Ein Gott, der wie im Falle Hiobs, den er erbarmungslos Schicksalsschlägen aussetzt, um seinen Glauben zu prüfen, mit dem Teufel auf Kosten der Menschen wettet …
Der Wetten mit dem Teufel abschließt.
Judas Ischariot hatte am Ende die Wahrheit erkannt. Sie stand zwischen den Zeilen seines Berichts. Mit Jesus hatte Gott sein letztes Pulver verschossen – er war der letzte Wett-einsatz eines besiegten Gottes im himmlischen Kampf gegen Luzifer gewesen. Die Legionen des Erzengels Michael hatten nicht genügt, der Wucht der Aufständischen Einhalt zu gebie-ten. Luzifers Engel hatten die letzten Getreuen Gottes ver-nichtend geschlagen. Zorn und Hass verleihen Kraft. So wur-de der Engel, der einst der perfekteste, der lichteste und gü-tigste, doch zugleich auch der stolzeste gewesen war, böse und brachte Gott selbst zu Fall. Er nahm ihm seine Macht. Er machte ihn zum Sklaven. Seither herrscht das Böse in der Schöpfung. Jesus war im letzten Augenblick schwach geworden. »Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?« So hatte er die Menschen nicht erlöst, und dadurch konnte er auch Luzifer nicht erlösen.
Die Menschen erwarten die Herrlichkeit oder gar nichts, je nachdem, ob sie an Gott glauben oder Atheisten sind. Doch die Hoffnung ist eine Illusion. Die Hoffnung existiert nicht. DIE HÖLLE IST ÜBERALL: die Hölle für jeden Menschen, der auf die Welt kommt. Für immer, rettungslos, ohne Hoffnung auf Erlösung. Grenzenloser Schmerz, ewig währende Betrübnis. Die Bestrafung der Unschuldigen. Das Schlimmste, was man sich vorstellen kann. Viel schlimmer als die Nicht-existenz oder das Ende des Lebens. Körperlicher Schmerz hat Grenzen. Es kommt der Augenblick, in dem der Körper nichts mehr ertragen kann und aufhört, etwas zu spüren. Es endet mit Bewusstlosigkeit oder Tod. Doch die Seele kann unendlich und grenzenlos leiden: Dieser Schmerz ist uner-messlich und hört niemals auf. Er dauert fort bis in alle Ewigkeit, ohne Ende. Es ist unmöglich, diesem Schmerz zu entfliehen. Er ist das Grauenvollste, was der menschliche Geist zu fassen in der Lage ist. Das kann der Teufel den Seelen antun. Jesus sah und erkannte das.
Als Gipfel der Grausamkeit täuscht Luzifer, der Fürst der Lügen, die Menschen und macht sie glauben, dass er den Krieg gegen Gott verloren hat. Er macht sie glauben, dass es Hoffnung gibt. Aber es gibt keine Hoffnung. Das Böse beherrscht alles. Das absolute Böse. Die Hölle und der Schmerz, ohne Erlösung, jetzt und immerdar.
Cloister hob den Blick. Tränen verschleierten ihm die Sicht auf den Horizont, doch nun wusste er, dass die Welt, die er vor sich hatte, verdammt war. Der Mensch lebte in der Hölle und würde nie daraus entkommen.
Dies war die Wahrheit. Die einzige Wahrheit.
E PILOG : E IN J AHR SPÄTER
In diesem Jahr folgten die Tage und die Nächte aufeinander wie immer, und die Welt drehte sich weiter, ohne etwas von der Wahrheit zu ahnen. Die Menschen lebten weiter wie bis-her, mit all ihren Leidenschaften, Ängsten, Träumen und Hoffnungen. Das Leben bahnt sich noch stets einen Weg, auch wenn es nicht weiß, wohin. Albert Cloister streifte ziel-und hoffnungslos umher. Er hatte Gott und die Wahrheit gesucht, doch nur Luzifer gefunden. Er, Albert, war der Einzige, der die Wahrheit kannte. Außer ihm kannte sie niemand auf der Welt. Er wollte laut schreien und die
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