616 - Die Hoelle ist ueberall
nicht, um Jesus zu ergreifen, sondern um ihn zu vertei-digen und zu eskortieren … Ich wusste nicht, dass er das Gegenteil beabsichtigte. Ich verfing mich in seinen be-trügerischen Schlingen wie die Fische im See Geneza-reth in den Netzen der Fischer. Petrus wollte mich tö-ten. Ich musste fliehen. Ich sagte, ich würde mir das Le-ben nehmen, würde mich am ersten einsamen Baum, auf den ich träfe, erhängen; doch ich tat es nicht. Ich entkam in die Wüste, um einsam wie ein Einsiedler zu leben, meine Tage in Kontemplation und Armut zu verbringen. Ich hatte zu viel Schaden angerichtet und musste Buße tun.
Jeden Tag und jede Nacht bat ich Gott um Vergebung. Durch meine Schuld fiel Jesus seinen Feinden in die Hände. Die Prophezeiungen hatten es vorausgesagt, doch alles war anders, als es geschrieben steht. Die anderen wussten nicht, was Jesus nur mir allein erzählt hatte. Die Prophezeiungen enthielten Irrtümer. Jesus versuchte, sie zu korrigieren. Er wollte, dass sie in Erfüllung ge-hen, und bat mich, ihm dabei zu helfen. Es schien, als hätte Jesus den Verstand verloren. Er sagte unverständliche Dinge, als er aus der Abgeschiedenheit der Wüste zurückkehrte. Seither war Jesu Verzweiflung für mich unergründlich. So viele Jahre – ich kann sie nicht mehr zählen – denke ich nun schon über das nach, was er sag-te. Ich glaubte und glaube immer noch, dass seine Mission in dieser Welt zu schwer auf ihm lastete. Ich kann-te ja nicht alle Einzelheiten. Der Vater schwieg, anstatt ihm Kraft zu geben. Er verlangte das höchste Opfer von ihm und überließ ihn dann seinem Schicksal … So, wie Jesus auch mir ein ungeheures Opfer abverlangte. Mein Name würde von da an für immer entehrt sein. Mein Name würde gleichbedeutend sein mit Verrat. »Wirst du es dir gefallen lassen, dass man dich bis zum Ende der Zeiten verachtet? Wirst du hinnehmen, dass du der am meisten verachtete unter den Menschen sein wirst?«, fragte mich Jesus. Mich, seinen meistgeliebten, treuesten Freund und Jünger. »Deinetwegen nehme ich es hin.«
Wir schlossen einen geheimen Pakt, den ich brach. Und durch diesen Bruch führte ich ihn dem Tod zu, den er wünschte. Noch nach all diesen Jahren begreife ich nicht, wie das alles geschehen konnte. Vielleicht stand das alles so geschrieben, und die Buchstaben wa-ren mit unzerreißbaren Schicksalsfäden aneinanderge-bunden. Im Winter meines Lebens, in dieser sengend heißen, schrecklichen Wüste jenseits meines geliebten Landes Israel, in der Wüste, welche die Vorfahren mei-nes Volkes durchquerten und in der Moses das Gelobte Land sah, schreibe ich diese Geschichte auf: meine Geschichte mit Jesus von Nazareth. Ich hatte nie vor, das zu tun, in all den Jahren, die ich nun zurückgezogen und verborgen hier lebe. Auch glaube ich nicht, dass zukünftige Generationen von dieser Schrift einen Nut-zen haben werden.
Gewiss werden die Menschen Jesus dann bereits vergessen haben, falls sie sich überhaupt länger an ihn erinnern sollten. Ein junger Ägypter namens Sennefer, der auf einer ziellosen Flucht zu mir fand, verloren unter der schrecklichen Sonne dieses Landes, an der Schwelle des Todes, wusste nichts von Jesus. Dennoch hat er mich zum Nachdenken angeregt. Seine lebendige Ju-gend, die über die Melancholie siegt, sein mutiges Herz, das die Traurigkeit überwindet, sie haben in meinem Geist gewirkt wie das rotglühende Metall eines Schwertes, das in kaltes Wasser getaucht wird. Er verfolgte ei-nen Traum, wie auch ich. Er musste fliehen, um nicht das Leben zu verlieren. Ich musste fliehen, um nicht meine Seele zu verlieren. Nichts geschieht ohne Grund. Sennefer hat mir seine Geschichte erzählt. Sie ist schlicht und anrührend wie alles, was man tief drinnen im Herzen fühlt. Als Kind wurde er gefangen genommen und in die nabatäische Stadt Petra gebracht. Dort verliebte er sich Jahre später in die schöne Nofret, ebenfalls Ägypterin und Sklavin wie er selbst. Es war eine unmögliche Liebe. Das Mädchen war von unermessli-cher Schönheit, wie sie nur die Augen eines Verliebten wahrnehmen kann, und sie war die Favoritin des Herrn der beiden. Als der die beiden zusammen entdeckte, ließ er sie in Fesseln legen. Sennefer verurteilte er zum Tode. Der Herr war ein reicher und mächtiger Kauf-mann, und Sennefer konnte nur fliehen, indem er seine Geliebte zurückließ. Er wollte sterben deswegen, zu-rückkehren und sich dem Henker stellen. Doch er begriff, dass dies nichts ändern würde, während er
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