62 - Der verlorene Sohn 03 - Die Verlorenen
Sie es ihm.“
Das paßte dem Musterzeichner. Er war ganz stolz darauf, das überraschende Wort aussprechen zu dürfen. Er deutete auf Arndt und sagte zu Schulze:
„Nachbar, sehen Sie sich diesen Herrn einmal genau an, und sagen Sie mir dann, für wen Sie ihn ungefähr halten!“
Der Angeredete musterte Arndt und antwortete:
„Er scheint ein Dorfschulmeister zu sein.“
„Fehlgeschossen! Raten Sie höher!“
„Lassen Sie mich mit Ihrem Raten in Ruhe, und sagen Sie es mir lieber sogleich; dann sind wir im klaren.“
„Gut! Dieser Herr ist – erschrecken Sie nicht! – der Fürst des Elends.“
Schulze fuhr gleich ein paar Schritte zurück.
„Machen Sie keinen dummen Spaß!“ sagte er.
„Es ist nicht Spaß, sondern Wahrheit!“
„Wahrheit? Wirklich Wahrheit?“ fragte er Arndt.
„Ja, mein Lieber. Man hat mir den Namen Fürst des Elends gegeben.“
„Also doch, doch, doch! Herr, das ist eine Freude, eine Freude, wie ich seit langen, langen Jahren keine gehabt habe. Alle Welt sehnt sich, Sie einmal zu sehen. Ich hatte nicht gedacht, daß es gerade mir passieren würde, und zwar heute nacht, wo ich im Begriff war –“
Er stockte verlegen. Arndt fuhr fort:
„Wo Sie im Begriff standen, ein klein wenig den Holzspitzbuben zu spielen.“
„Na, ja; da Sie es sind, will ich es eingestehen. Ich verdiene drei Gulden und meine Frau nicht viel über einen. Das macht vier Gulden in der Woche. Sie mögen ausrechnen, ob man davon leben kann. Wir sollen wegen rückständiger Abgaben ausgepfändet werden. Ich weiß wahrhaftig nicht, woher ich das Geld nehmen soll, und so kam mir der Gedanke, in den Wald zu gehen.“
„Sie mit Ihrem einen Arm! Einen Baum umsägen!“
„Pah! Hätte er mich getroffen und totgeschlagen, so wäre es aus! Ich habe das Leben satt!“
„Das dürfen Sie nicht sagen! Es gibt keine Not, aus der nicht Hilfe möglich wäre.“
„Das sagt meine Frau auch; dabei essen wir Suppe von Kartoffelschalen!“
„Sie werden bald etwas Kräftigeres essen. Ich will Ihr Arzt sein und Ihnen Ihre Diät vorschreiben. Was meinen Sie, Herr Wilhelmi, soll ich ihm so ein Rezept geben, wie auch Sie bekommen haben?“
Der Gefragte nickte lachend mit dem Kopf und antwortete:
„Ich würde es ihm gönnen. Bessere Rezepte kann wohl kein Arzt verschreiben.“
„Nun, so wollen wir sehen, ob es auch ihm Hilfe bringt!“
Er zog eine Banknote von hundert Gulden hervor und gab sie dem Hundejungen. Dieser betrachtete den Schein mit weit aufgerissenen Augen und sagte:
„Alle guten Geister! Das sind ja hundert Gulden!“
„Nun ja!“ lachte Wilhelmi.
„Das heißt, ein ganzes Vermögen!“
„Und es gehört Ihnen.“
„Mir? Was? Wie? Mir?“
„Ja. Dieser Herr schenkt es Ihnen, ja.“
„Ist das wahr, wirklich wahr?“ fragte er Arndt.
„Gewiß, gewiß, mein Lieber. Nehmen Sie diese Summe, und versuchen Sie, Ihre augenblickliche Not zu lindern.“
„Herrgott, welch eine Freude, welch ein Glück! Herr, ich danke Ihnen! Sie machen damit glückliche Menschen! Ein solches Geld habe ich all mein Lebtag nicht in der Hand gehabt. Jetzt frage ich den Teufel mehr nach dem Waldkö –“
Er hielt bestürzt inne. Er hatte sich von seiner Freude hinreißen lassen, einen Namen zu nennen, den in solcher Beziehung auszusprechen außerordentlich gefährlich war.
„Sprechen Sie nur weiter“, sagte Arndt.
„Oh, ich weiß gar nicht mehr, was ich eigentlich sagen wollte“, antwortete Schulze ganz verlegen.
„So will ich Ihnen helfen. Sie wollten sagen, daß Sie nun nicht mehr nach dem Waldkönig fragen wollen.“
„Nach dem? Oh, der ist mir gar nicht in den Sinn gekommen!“
„Nicht? Bitte, besinnen Sie sich! Warum sollte er Ihnen nicht in den Sinn kommen, da er doch schon zu Ihnen in die Stube gekommen ist?“
„In die Stube?“
„Ja, in diese Stube.“
„Wann denn?“
Man sah es ihm an, daß er sich ganz bestürzt fühlte.
„Heute“, antwortete Arndt, „vor kaum drei Viertelstunden.“
„Herr, ich begreife Sie nicht! Ich weiß gar nicht, was Sie sagen wollen.“
„Ich habe ihn ja bei Ihnen gesehen?“
„Sie? Sie waren ja gar nicht da!“
„Er gab Ihnen einen Brief, den Sie morgen dem Schmied Wolf überbringen sollen.“
Schulze fuhr zurück, als ob er auf eine Schlange getreten sei, und rief abwehrend:
„Wo denken Sie hin! Ich weiß nichts von einem Brief!“
Da meinte Wilhelmi begütigend zu ihm:
„Fürchten Sie sich nicht, Nachbar! Dieser Herr weiß alles. Auch ich
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