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wirst es schon sehen.«
»Schlappschwanz«, »Penner« - ist das eine Art für einen Lehrer, mit einem leicht beeinflussbaren Teenager zu reden? Nicht, dass ich nicht verstanden hätte, warum er das tat. Es war schon richtig, wenn ich fünfhundert Meter gelaufen war, hielt ich an, um mit den Fettärschen weiterzugehen und mich über die Beatles, Mädchen, Motorräder und sonst was zu unterhalten, und dann, wenn noch fünfhundert Meter zu laufen waren, fing ich wieder an zu rennen und schnaufte überhaupt nicht, wenn ich über die Ziellinie kam.
»Das ist alles mein Fehler. Ich habe dich nicht richtig erzogen«, sagt meine leidgeprüfte Mutter, die während des Krieges in Korea war, auch heute noch. Wenn die Sache etwas schwieriger wird, steige ich aus; wenn mir irgendeine Kleinigkeit im Weg steht, gebe ich einfach auf und lasse mich mit dem Strom treiben, immer auf der Suche nach dem einfachsten Ausweg, dem Weg des geringsten Widerstandes, so bin ich, sagt sie. Ich gebe es ungern zu, aber sie hat Recht.
Trotz alledem machte ich in meinem ersten Jahr beim Langstreckenlauf mit. Der Kurs ging über sieben Kilometer: von der Schule zum Mount Eboshi, den Berg halb rauf und wieder zurück. Zusammen mit den Waschlappen, den Fußlahmen und meinen Kollegen aus der Fraktion der Weicheier ging ich still die Bergstraße hinauf zum Wendepunkt und wurde von einer Gruppe Mädchen überholt, die fünf Minuten später gestartet war, dann lief ich im leichten Trab die Straße hinunter zurück zur Schule, wo die meisten Schüler in warme Decken gehüllt nach Luft schnappten oder nur noch kotzend in den Erste-Hilfe-Raum geführt wurden oder mit zitternden Händen warme Glukose-Lösung tranken, und als ich die Ziellinie überschritt, war ich Nummer 598 von 662 männlichen Schülern. Ich pfiff A Day in the Life, und nicht nur Kawasaki, sondern auch die meisten anderen Lehrer meinten, ich sei Abschaum.
Weil ich ein sensibles Kind war, wollte ich so etwas nicht noch mal durchmachen, also lief ich im Winter meines zweiten Jahres, als ich sechzehn war, von zu Hause weg.
Ich hob die fast 30 000 Yen von meinem Postsparbuch ab und machte mich auf in die strahlende Großstadt Hakata. Es gab neben dem Schulrennen noch einen weiteren Grund, warum ich auf diese Reise ging. Ich wollte meine Jungfräulichkeit verlieren.
Sobald ich Hakata erreicht hatte, checkte ich im ANA-Hotel ein, zu diesem Zeitpunkt das beste Haus in ganz Kyushu, dann zog ich mein Tweedjackett im George-Harrison-Stil an und ging auf die Piste. Ich schlenderte eine Allee mit blattlosen Bäumen entlang und pfiff She’s a Rainbow, als eine Frauenstimme »Hallo« sagte. Die Sonne ging gerade unter, der Himmel strahlte in einem bleichen, herzergreifenden Purpur. Die Stimme gehörte zu einer Frau, die einige Jahre älter war als ich, Marianne Faithfull ziemlich ähnlich sah und einen silbernen Jaguar E fuhr. Sie winkte mit dem Zeigefinger, öffnete die Tür des Jaguar und sagte: »Ich habe eine Bitte an dich. Würde es dir was ausmachen einzusteigen? Bitte.« Ich stieg ein. Ihr Parfüm war atemberaubend. »Weißt du«, sagte sie, »ich hatte ein paar Probleme in Tokio, und ich musste mich für eine Weile hier verstecken. Jetzt arbeite ich in einem sehr exklusiven Club namens Cactus, und da war dann dieser Kunde, und das Ganze wird jetzt ein Problem, weil, er ist ein Yakuza und hat ein Sägewerk, und er möchte mich als Geliebte und würde nie ein Nein als Antwort akzeptieren, aber, na ja, ich brauche das Geld wirklich nicht, und ich möchte überhaupt nicht die Geliebte von irgendwem werden, und ich habe ihm erzählt, dass ich einen kleinen Bruder habe, als einzigen Verwandten, und er hat eine Herzkrankheit, und deswegen muss ich bei ihm bleiben. Bloß habe ich überhaupt keinen Bruder, und ich habe jemanden gesucht, der die Rolle spielen könnte, aber ich habe niemanden gefunden, und heute ist der Tag, an dem ich zu dem Typen muss und ...« Sie fragte mich, ob ich nicht für einen Tag den Bruder spielen könnte. Ich schaute auf ihren Silberfuchsmantel und den knallroten Nagellack, ihren Minirock und ihre endlosen, schlanken Beine und willigte natürlich ein, ihr zu helfen. Sie nahm mich mit zu einem Gebäude am Fluss, wo der Yakuza im siebten Stock ein Büro hatte. Er war ein riesiger Kerl Anfang sechzig mit einem Stiernacken und sieben jungen Schlägern, die für ihn arbeiteten. Einer der Schläger war tätowiert. Der Kerl sagte: »Für ein Kind mit einer Herzkrankheit sieht er
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