74 - Mein Leben und Streben
Hände über dem Kopf zusammen und erklärte, daß dieser Pest- und Cholerapfuhl sofort verschwinden müsse. Am nächsten Tag brachte der Polizist Eberhard einen Zettel des Herrn Stadtrichters Layritz des Inhaltes, daß binnen jetzt und drei Tagen der Tümpel auszufüllen und die Froschkolonie zu töten sei, bei fünfzehn ‚Guten Groschen‘ Strafe. Wir Kinder waren empört. Unsere Frösche umbringen! Ja, wenn der Herr Stadtrichter Layritz einer gewesen wäre, dann herzlich, herzlich gern! Wir hielten Rat und was wir beschlossen, wurde ausgeführt. Der Tümpel wurde so weit ausgeschöpft, daß wir die Frösche fassen konnten. Sie wurden in den großen Deckelkorb getan und dann hinaus hinter das Schießhaus nach dem großen Zechenteich getragen, Großmutter voran, wir hinterher. Dort wurde jeder einzeln herausgenommen, geliebkost, gestreichelt und in das Wasser gelassen. Wieviel Seufzer dabei laut geworden, wieviel Tränen dabei geflossen und wieviel vernichtende Urteile dabei gegen den sogenannten Bezirksarzt gefällt worden sind, das ist jetzt, nach über sechzig Jahren, wohl kaum mehr festzustellen. Doch weiß ich noch ganz bestimmt, daß Großmutter, um dem ungeheuern Schmerz ein Ende zu machen, uns die Versicherung gab, ein jedes von uns werde genau nach zehn Jahren ein dreimal größeres Haus mit einem fünfmal größeren Garten erben, in dem es einen zehnmal größeren Teich mit zwanzigmal größeren Fröschen gebe. Das brachte in unserer Stimmung eine ebenso plötzliche wie angenehme Änderung hervor. Wir wanderten mit der Großmutter und dem leeren Deckelkorb vergnügt nach Hause.
Das geschah in der Zeit, als ich nicht mehr blind war und schon laufen konnte. Ich war weder blind geboren noch mit irgendeinem vererbten körperlichen Fehler behaftet. Vater und Mutter waren durchaus kräftige, gesunde Naturen. Sie sind bis zu ihrem Tod niemals krank gewesen. Mich atavistischer Schwachheiten zu zeihen, ist eine Böswilligkeit, die ich mir unbedingt verbitten muß. Daß ich kurz nach der Geburt sehr schwer erkrankte, das Augenlicht verlor und volle vier Jahre siechte, war nicht eine Folge der Vererbung, sondern der rein örtlichen Verhältnisse, der Armut, des Unverstandes und der verderblichen Medikasterei, der ich zum Opfer fiel. Sobald ich in die Hand eines tüchtigen Arztes kam, kehrte mir das Augenlicht wieder, und ich wurde ein höchst kräftiger und widerstandsfähiger Junge, der stark genug war, es mit jedem andern aufzunehmen. Doch ehe ich über mich selbst berichte, habe ich noch für einige Zeit bei dem Milieu zu bleiben, in dem ich meine erste Kindheit verlebte.
Mutter hatte mit dem Haus auch die auf ihm stehenden Schulden geerbt. Die waren zu verzinsen. Hieraus ergab sich, daß wir eben nur mietfrei wohnten, und auch das nicht einmal ganz. Mutter war sparsam, Vater in seiner Weise auch. Aber wie er in allem maßlos war, in seiner Liebe, seinem Zorn, seinem Fleiß, seinem Lob, seinem Tadel, so auch hier in der Beurteilung der kleinen Erbschaft, die nur ein Ansporn sein konnte, weiterzusparen und das Häuschen von Schulden frei zu machen. Aber wenn er auch nicht geradezu glaubte, plötzlich reich geworden zu sein, so nahm er doch an, jetzt zu einer andern Lebensführung übergehen zu dürfen. Er verzichtete darauf, sich sein ganzes Leben lang hinter dem Webstuhl abzurackern. Er hatte ja nun ein Haus, und er hatte Geld, viel Geld. Er konnte zu etwas anderem, Besserem greifen, was bequemer war und mehr lohnte als die Weberei. Während er, nicht schlafen könnend, im Bett lag und darüber nachdachte, was zu ergreifen sei, hörte er die Ratten über sich im leeren Taubenschlag rumoren. Dieses Rumoren wiederholte sich von Tag zu Tag, und so entstand, in der jedem Psychologen wohlbekannten Weise in ihm der Entschluß, die Ratten zu vertreiben und Tauben anzuschaffen. Er wollte Taubenhändler werden, obgleich er von diesem Fach nicht das geringste verstand. Er hatte gehört, daß da sehr viel Geld zu verdienen sei, und war der Meinung, daß er auch ohne die nötigen Sonderkenntnisse genug Intelligenz besitze, jeden Händler zu überlisten. Die Ratten wurden vertrieben und Tauben angeschafft.
Leider war diese Anschaffung nicht ohne Geldkosten zu bewerkstelligen. Mutter mußte einen ihrer Beutel opfern, vielleicht gar zwei. Sie tat es nur mit Widerstreben. Sie fand an den Tauben nicht dasselbe Wohlgefallen, welches wir Kinder an ihnen fanden. Am meisten Vergnügen machte es uns, wenn wir beobachteten, wie die
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