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74 - Mein Leben und Streben

74 - Mein Leben und Streben

Titel: 74 - Mein Leben und Streben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl May
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es gegeben, in Betracht der Vorfahren wahr und ehrlich zu sein, um auch gegen die Nachkommen wahr und ehrlich sein zu können. Den Einfluß der Verstorbenen auf ihre Nachlebenden an das Tageslicht zu ziehen, ist rechts eine Seligkeit und links eine Erlösung für beide Teile, und so habe auch ich die meinen genauso zu zeichnen, wie sie in Wirklichkeit waren, mag man dies für unkindlich halten oder nicht. Ich habe nicht nur gegen sie und mich, sondern auch gegen meine Mitmenschen wahr zu sein. Vielleicht kann mancher aus unserem Beispiel lernen, in seinem Fall das Richtige zu tun.
    Mutter hatte ganz unerwartet von einem entfernten Verwandten ein Haus geerbt und einige kleine, leinene Geldbeutel dazu. Einer dieser Geldbeutel enthielt lauter Zweipfenniger, ein anderer lauter Dreipfenniger, ein dritter lauter Groschen. In einem vierten steckte ein ganzes Schock Fünfzigpfenniger, und im fünften und letzten fanden sich zehn alte Schafhäuselsechser, zehn Achtgroschenstücke, fünf Gulden und vier Taler vor. Das war ja ein Vermögen! Das erschien der Armut fast wie eine Million! Freilich war das Haus nur drei schmale Fenster breit und sehr aus Holz gebaut, dafür aber war es drei Stockwerke hoch und hatte ganz oben unter dem First einen Taubenschlag, was bei andern Häusern bekanntlich nicht immer der Fall zu sein pflegt. Großmutter, die Mutter meines Vaters, zog in das Parterre, wo es nur eine Stube mit zwei Fenstern und die Haustür gab. Dahinter lag ein Raum mit einer alten Wäscherolle, die für zwei Pfennige pro Stunde an andere Leute vermietet wurde. Es gab glückliche Sonnabende, an denen diese Rolle zehn, zwölf, ja sogar vierzehn Pfennige einbrachte. Das förderte die Wohlhabenheit ganz bedeutend. Im ersten Stock wohnten die Eltern mit uns. Da stand der Webstuhl mit dem Spulrad. Im zweiten Stock schliefen wir mit einer Kolonie von Mäusen und einigen größeren Nagetieren, die eigentlich im Taubenschlag wohnten und des Nachts nur kamen, uns zu besuchen. Es gab auch einen Keller, doch war er immer leer. Einmal standen einige Säcke Kartoffeln darin, die gehörten aber nicht uns, sondern einem Nachbarn, der keinen Keller hatte. Großmutter meinte, daß es viel besser wäre, wenn der Keller ihm und die Kartoffeln uns gehörten. Der Hof war grad so groß, daß wir fünf Kinder uns aufstellen konnten, ohne einander zu stoßen. Hieran grenzte der Garten, in dem es einen Holunderstrauch, einen Apfel-, einen Pflaumenbaum und einen Wassertümpel gab, den wir als ‚Teich‘ bezeichneten. Der Holunder lieferte uns den Tee zum Schwitzen, wenn wir uns erkältet hatten, hielt aber nicht sehr lange vor, denn wenn das eine sich erkälteter fingen auch alle andern an, zu husten und wollten mit ihm schwitzen. Der Apfelbaum blühte immer sehr schön und sehr reichlich; da wir aber nur zu wohl wußten, daß die Äpfel gleich nach der Blüte am besten schmecken, so war er meist schon Anfang Juni abgeerntet. Die Pflaumen aber waren uns heilig. Großmutter aß sie gar zu gern. Sie wurden täglich gezählt, und niemand wagte es, sich an ihnen zu vergreifen. Wir Kinder bekamen doch mehr, viel mehr davon, als uns eigentlich zustand. Was den ‚Teich‘ betrifft, so war er sehr reich belebt, doch leider nicht mit Fischen, sondern mit Fröschen. Die kannten wir alle einzeln, sogar an der Stimme. Es waren immer so zwischen zehn und fünfzehn. Wir fütterten sie mit Regenwürmern, Fliegen, Käfern und allerlei andern guten Dingen, die wir aus gastronomischen oder ästhetischen Gründen nicht selbst genießen konnten, und sie waren uns auch herzlich dankbar dafür. Sie kannten uns. Sie kamen an das Ufer, wenn wir uns ihnen näherten. Einige ließen sich sogar ergreifen und streicheln. Der eigentliche Dank aber erklang uns des Abends, wenn wir am Einschlafen waren. Keine Sennerin kann sich mehr über ihre Zither freuen als wir über unsere Frösche. Wir wußten ganz genau, welcher es war, der sich hören ließ, ob der Arthur, der Paul oder Fritz, und wenn sie gar zu duettieren oder im Chor zu singen begannen, so sprangen wir aus den Federn und öffneten die Fenster, um mitzuquaken, bis Mutter oder Großmutter kam und uns dahin zurückbrachte, wohin wir jetzt gehörten. Leider aber kam einst ein sogenannter Bezirksarzt in das Städtchen, um sogenannte gesundheitliche Untersuchungen anzustellen. Der hatte überall etwas auszusetzen. Dieser ebenso sonderbare wie gefühllose Mann schlug, als er unsern Garten und unsern schönen Tümpel sah, die

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