Liebeskuenste
An der Tür klingelt es Sturm. Ich schlucke eine Verwünschung hinunter, steige triefend aus der Dusche, greife nach meinem Bademantel und wickele mir schnell ein Handtuch um die nassen Haare. Erbost über die Störung reiße ich die Tür auf.
Auf der Schwelle steht meine Mutter, die Augen vom Weinen gerötet.
»Mama! Was ist passiert?«, frage ich erschrocken.
Ich lasse sie eintreten und führe sie in mein winziges Wohnzimmer. Hastig räume ich Kleidung, Bücher, Taschen, Hefte, Skizzen, Farben und Laptop beiseite, damit meine Mutter auf dem Sofa Platz nehmen kann.
Sie zerknüllt ein feuchtes Taschentuch zwischen ihren Fingern, mit dem sie sich immer wieder über die Augen fährt. »Dein Onkel Harry ist gestorben!«, schluchzt sie.
Fassungslos sinke ich auf den altersschwachen Schreibtischstuhl. »Gestorben? Wann denn, und wie? Ich wusste gar nicht, dass er krank war!«
Onkel Harry ist oder war mein Patenonkel und der Bruder meiner Mutter. Er war kinderlos, und zwischen uns bestand eine besonders innige Verbindung, denn Harry war der lustigste und beste Onkel, den eine Nichte sich wünschen kann. Immer hatte er eine Nascherei parat, wenn ich ihn als Kind besuchte; dem Teenager steckte er heimlich dann und wann einen Geldschein zu. »Fürs Kino oder für ein hübsches T-Shirt«, raunte er leise, damit meine Eltern nichts bemerkten. Stets hatte er ein offenes Ohr für meine kleinen Sorgen und großen Nöte.
Mein Name ist Gina Theiß, Kunststudentin im 7. Semester an der Akademie der Bildenden Künste in München. Seit meine Beziehung mit meinem Sandkastenfreund Timo vor zwei Jahren in die Brüche ging, bin ich Single und lebe ziemlich beengt in einer unordentlichen kleinen Studentenbude. Ich bin ein Einzelkind, streng erzogen und sehr behütet aufgewachsen. Umso mehr genieße ich meine hart erkämpfte Freiheit, denn es hat mich zahllose Diskussionen und noch mehr Nerven gekostet, bis mein Vater mich endlich aus unserer ländlichen Idylle in die für seinen Begriff lasterhafte Großstadt ziehen ließ. Ihm wäre es lieber gewesen, ich hätte einen »ordentlichen« Beruf gelernt, Bankkauffrau oder Erzieherin zum Beispiel, denn mit meinem Kunststudium hat er sich noch immer nicht abgefunden.
Ganz anders mein Onkel Harry. Von Anfang an hat er mich ermutigt, meinen Neigungen zu folgen, und die gingen nun einmal in Richtung Malerei und Grafik. Er ist es gewesen, der meinem Vater gut zugeredet hatte und ihn schließlich davon überzeugen konnte, dass ein Kunststudium für mich das einzig Richtige war. Onkel Harry wäre selbst gerne Künstler geworden, seine besondere Leidenschaft galt der Bildhauerei, aber ihm war ein Studium aus finanziellen Gründen verwehrt gewesen. Stattdessen betrieb er in Schwabing eine kleine Galerie, die vor allem Kunstwerke unbekannter junger Maler ausstellte und zum Kauf anbot. Große Reichtümer hat er damit nicht erworben, aber er hat sein Geschäft mit viel Liebe und noch mehr Kunstverstand betrieben, und sein Name hat in der Münchener Szene einen guten Klang. Auf jeden Fall war er ein glücklicher und zufriedener Mensch, der für seinen Beruf lebte und über einen riesigen Freundes- und Bekanntenkreis verfügte.
Ich kann nicht begreifen, dass dieser lebensfrohe, unerschütterliche Mann tot sein soll.
»Wie ist er gestorben?«, frage ich noch einmal. Als ich sehe, dass meine Mutter noch immer weint und sich gar nicht beruhigen kann, gehe ich in die Küche und schaue mich nach etwas Trinkbarem um. Es ist noch ein Rest heißes Wasser auf dem Herd, also brühe ich rasch einen Kamillentee auf.
Als ich ihn vor meiner Mutter abstelle, blickt sie mit tränenüberströmtem Gesicht auf. »Man hat ihn in seiner Galerie gefunden. Er saß in seinem alten Ohrensessel, die Zeitung auf den Knien und schien friedlich zu schlafen. Als Frau Gubitz, seine Angestellte, mittags ins Geschäft kam und ihn wecken wollte, war er schon seit Stunden tot!«
Sie schluchzt wieder in ihr Taschentuch, und auch mir steigen Tränen in die Augen. Erst nach und nach beginne ich zu begreifen, dass ich nie mehr mit ihm über Rodin, Beuys oder Moore diskutieren, nie mehr seine rauchige Stimme und sein ansteckendes Lachen hören werde, und eine maßlose Traurigkeit überkommt mich.
Ich setze mich neben meine Mutter, drücke sie an mich, und gemeinsam trauern wir um einen liebenswerten, wunderbaren Menschen, der eine unschließbare Lücke in unserem Leben hinterlässt.
Es bleibt mir und Mama überlassen, die Formalitäten
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