Abendland
Dakota gelandet – und wenn ich mich an die Sommerzeit erinnere, während der der Wind über die Prärie wehte und das hohe Gras in Wellen wie ein Meer bis zum Horizont wogte, so scheint mir dieser Begriff sehr richtig und zudem mit so bildstarker Symbolkraft aufgeladen, daß er mir heute noch den Rest an Gottesfurcht einjagt, der sich in den Ritzen meines Lebens erhalten hat. Ohne Wehmut hatte ich New York den Rücken gekehrt. Mit einem Koffer war ich zweieinhalb Jahre zuvor in der Stadt angekommen, mit demselben Koffer und dazu einer Gitarre verließ ich sie. Als ich im Taxi auf dem Weg zum La Guardia Airport durch Queens fuhr, empfand ich nichts weiter als Erleichterung. Mr. Albert hatte zum Abschied gesagt, er gehe davon aus, daß wir weiter in Kontakt blieben, ich solle mich erkundigen, ob dort oben für einen Mann seiner Hautfarbe ein friedliches Leben möglich sei. Aber ich wußte, er meinte es nicht ernst; und wir beide wußten, daß wir uns nicht mehr wiedersehen würden. Ich habe ihm ein paar Zeilen geschrieben – auf die Grußkarte eines zwei Meter langen Ansichtskartenleporellos vom Theodore Roosevelt National Park und seiner Umgebung; das gleiche schickte ich auch meiner Mutter, Bilder wie aus Wildwestfilmen: Bisons, Felsriffe, Pferdetränken, Windräder, Blockhütten und Männer mit Cowboyhut, Bandana und Chap, auch ein Gemälde von Sitting Bull mit Federbusch und Kriegsbemalung und eine Collage aus deutschnamigen Ortstafeln – New Leipzig, Manfred, Karlsruhe und Bismarck – und einem Bild der »größten Holsteinkuh der Welt«, die, aus Polyester gegossen, auf einem Hügel stehend, als ein Wahrzeichen des Landes die Prärie überragte; auf beide Karten schrieb ich: »Grüße aus meiner neuen Heimat.« Als meine Adresse gab ich das Germanistische Institut der Universität in Dickinson an. Meine Mutter schrieb mir zurück, Mr. Albert nicht. Auch Carl schrieb ich, ebenso Dr. Kupelian, beiden eine schmucklose Postkarte. Dr. Kupelian antwortete postwendend; das Buch würde sehr schön werden, schrieb er, und wie die Vorbestellungen aussähen, dürfe ich mich auf einen Erfolg freuen; im Frühling, wenn ich bis dahin noch nicht aufgegeben hätte, würde er mich gern besuchen. Bald nachdem ich mich »in meiner neuen Heimat« eingerichtet hatte, wartete in Antonias Büro ein Paket auf mich. Es enthielt dreißig Exemplare von Musicians . Auf dem Umschlag war, in einem warmen Ockerton gehalten, eine Fotografie des berühmten Fotografen Andreas Feininger, die einen großen Himmel mit Wolken über der alten Route 66 zeigte. Das Buch hatte 212 Seiten und ein Lesebändchen und kostete 12 Dollar und 90 Cent. Auf der Rückseite war ein Bild von mir – ich saß auf einer Bank vor dem Geländer zum East River und grinste, im Hintergrund waren die Brooklyn Bridge und Downtown Manhattan zu sehen. Das Foto hatte Maybelle gemacht – an dem Tag, an dem wir aufgebrochen waren, um durch das Hudson Valley nach Hyde Park zu fahren. Ich hatte auf diesem Bild bestanden.
Für 1500 Dollar kaufte ich mir einen gebrauchten Toyota-Jeep, dessen Rückbank fehlte, der aber, wie mir versichert wurde, eine gut funktionierende Heizung habe und wie geschaffen sei für die Badlands. Einmal in der Woche fuhr ich die knapp siebzig Meilen nach Dickinson, stopfte unterwegs an einem Parkplatz mit Aussichtsferngläsern meinen Abfall in die Mülleimer; frühstückte bei Burger King in der Nähe des Dinosaurier-Museums ein Stück von den bunten süßen Biskuitkuchen, die in Form von Tyrannosaurus-Rexen angeboten wurden; besuchte anschließend Toni in ihrem Institut und borgte mir in der Bibliothek Bücher aus (durch den Nachlaß eines ehemals deutschen Zuwanderers aus Odessa war die Bibliothek gut bestückt mit Klassikern der Literatur und Philosophie, darunter eine üppig kommentierte Shakespeare-Ausgabe, zweisprachig, in den Übersetzungen von August Wilhelm Schlegel, Dorothea Tieck und Wolf Graf Baudissin, die ich, dank Tonis Intervention, über meinen ersten Winter in den Badlands ausleihen durfte); zum Mittagessen traf ich Toni und Lenny in der Mensa – Toni hatte mir meinen Lehrkörperausweis verlängern lassen –, drückte mich am Nachmittag auf dem Campus herum, plauderte mit Studenten und Lektoren, flirtete mit Studentinnen und Lektorinnen oder setzte mich im Zentrum der Stadt (was immer man als solches bezeichnen mochte) in die hübsche Cafeteria mit den blauen Fensterrahmen, las, schrieb mir Sachen auf – ich hatte wieder an meinem
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