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Abendland

Abendland

Titel: Abendland Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Köhlmeier
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Kind kann sie nicht nachholen. Irgend etwas ist passiert, und wir haben uns nicht mehr vertragen. Aber ich weiß nicht, was es war. Weißt du, was es war? Es war sicher meine Schuld. Aber wenn du dich nicht daran erinnerst, war es sicher nichts von Bedeutung, und ich rede mir das nur ein, aber es hat mich gequält. Ich habe mir gedacht, du erinnerst dich daran. Nein, du erinnerst dich nicht daran, ich sehe es. Im Kloster ist jeder Tag genau gleich wie der andere, darum braucht man sich an nichts zu erinnern, es gibt nichts zu erzählen, und ich bin froh darüber, es bleibt alles so, wie es ist, und darüber bin ich froh, Zeit spielt keine Rolle, und man kommt aus der Übung, wenn man sich erinnern will, irgendwann kann man es gar nicht mehr, das Wichtige ist da, als wäre es nicht vergangen, man braucht sich nicht daran zu erinnern, nicht einmal daran denken muß man, es ist einfach da wie dein linker Fuß. Ich dachte, als ich im Zug saß, du wirst dich sicher an viel mehr erinnern als ich, und hoffentlich stellst du mich nicht auf die Probe und prüfst mich ab von früher. Ich habe so viel vergessen. Ich habe vergessen, wie die Straße geheißen hat, in der wir in Wien gewohnt haben, denk dir. Oder wie das Geschäft geheißen hat, wo wir immer telefoniert haben. Als wäre ich damals nie richtig wach gewesen. Jetzt geht es wieder. Aber eine Zeitlang habe ich viel vergessen. Auf einmal waren fünf Jahre vorbei. Aber sicher erinnerst du dich daran, wie wir am Abend in der Küche gesessen waren und Radio gehört haben, und ich habe die Kuverts für die Gewerkschaft beschriftet und frankiert, weil ich zu Herrn Dr. Korab gesagt habe, ich erledige es daheim, ich wollte ja ein paar Stunden am Abend mit dir zusammensein. Das habe ich besonders schön in Erinnerung, du auch?«
    »Ja, ich auch.«
    Die Haut unter ihren Augen hatte sich rosa gefärbt, sie blickte unter halbgesenkten Lidern auf meine Lippen; über ihrem Ohr tauchte ein Strang grauer Haare unter ihrer Kopfbedeckung hervor. Noch etwas war neu an ihr – eine sonderbare Bewegung der Augen, die sie manchmal wie im Schrecken aufschlug und schnell und gleichsam rundum schielend im Kreis herumrollte. Ich erinnerte mich, wie sie einmal zusammen mit meinem Vater gesungen hatte, ein Wienerlied, sie die untere Stimme, aber eine Oktave höher als seine Stimme. Sie hatte an seiner Schulter gelehnt, es war in unserer Küche in der Penzingerstraße gewesen an einem gewöhnlichen Nachmittag, beide hatten sich einen Hut aus der Kronenzeitung gefaltet und über den Kopf gestülpt, und meine Mutter hatte den Mund aufgerissen und die Augen geschlossen, und sie hatte sich von meinem Vater durch die weich durchhängende Melodie führen lassen.
     
    I bin die höchste Quintessenz
    Vom urwüchsigen Wean
    Und singen is mei Leidenschaft
    Das tu i gar so gern
    Da kenn i kein Schenira
    Und fahr tartarisch füra
    Mein Wahlspruch ist und bleibt bei jedem
    Liad und beim Couplet:
    Nur aussa mit die tiafen Tön
    Und aufikralln in d Höh!
    Nur aussa mit die tiafen Tön
    Und aufikralln in d Höh!
    »Jetzt du«, sagte sie.
    Aber ich kam nicht dazu, ihr von meinen Erinnerungen an unsere gemeinsame Zeit zu erzählen. Es klopfte an die Tür. – Dagmar und David waren da.
2
    Ihr Haar war lockig und hennarot – damit hatte ich nicht gerechnet. Das erschwerte mir den Einstieg. So kam es, daß wir uns nur flüchtig begrüßten. Sie blickte an mir vorbei David nach, der zwischen uns hindurchgeschlüpft war. Sie trug weite Sachen im Schnitt chinesischer Bauersfrauen; auch darauf war ich nicht vorbereitet. Ich hatte zu Hause »Dagmar Lukasser« und auch »Dagmar Vorländer« in den Google eingegeben; drei Eintragungen, die eindeutig auf sie Bezug nahmen, hatte ich gefunden, sie hatten alle mit ihrer Arbeit in der Abteilung für Stadtentwicklung und Flächennutzung des Planungsamtes der Stadt Frankfurt und der vorgesehenen Verbauung des Rebstockparks durch den Architekten Peter Eisenman zu tun; aber kein Bild von ihr war im Netz aufgeschienen. Sie roch, wie sie vor zwanzig Jahren gerochen hatte, nach Veilchen. Das war einer der typischen Giftlerdüfte gewesen, im gleichen Laden zu kriegen, in dem es auch die Patschuliräucherstäbchen und die klingenden Kugeln gab.
    Dagmar gab meiner Mutter die Hand, nannte sie Agnes – »liebe, liebe Agnes«. Die Ordenstracht schien sie nicht zu irritieren, kein Kommentar zu diesem Thema. Ich hörte, wie sich ihre Stimme mit der von Agnes und David zu einem fröhlichen

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