Abenteuer meines ehemaligen Bankberaters
Sie zum Geburtstag bekommen haben, vielleicht klappen Sie das
Buch auch nach ein paar Seiten zu und denken lieber in Ruhe über den
zurückliegenden Tag nach, statt noch einmal den Computer aufzuklappen und
E-Mails zu überfliegen, die Ihnen allesamt belanglos vorkommen. Wahrscheinlich
ist das alles genau so, und ich gönne es Ihnen von Herzen.
Aber vielleicht ist es auch ganz anders. Das kann ich ja nicht
wissen, wenn Sie mir nichts erzählen. Vielleicht lesen Sie abends noch Ihre
Mails, vielleicht lesen Sie auch morgens und mittags und nachts Ihre Mails,
alle paar Sekunden schauen Sie nach, weil Ihnen einfach nichts anderes
einfällt, weil ja die vage Möglichkeit besteht, dass Sie dort endlich mal
wieder von etwas überrascht werden, von einem interessanten Drehbuch, vom
Facebook-Gruß einer verflossenen Liebe, von irgendeiner Nominierung, dem
Sonderangebot eines Reisebüros, ganz egal was, Hauptsache, es lenkt Sie für ein
paar Sekunden vom Grübeln ab, Hauptsache, es gibt Ihnen kurz etwas zu tun.
In Los Angeles müsste es jetzt gleich vier Uhr morgens sein, und
vielleicht liegen Sie noch wach, weil Sie nie redlich erschöpft sind, nur
ständig müde. Die Fernsehprogramme wechseln, bevor dort irgendjemand etwas sagen
kann, in einem davon sehen Sie auch kurz sich selbst. Sie kommen nicht auf den
Namen des Films, denken aber auch nicht lange darüber nach. In Ihrer rechten
Hand liegt die Fernbedienung, in der linken Ihr Telefon, auf dem Sie unentwegt
Ihre Mails überprüfen, und gleich wird dort meine erscheinen, und Sie werden
sie überfliegen und dann löschen, wie all die vorherigen auch. Dabei könnte ich
Ihnen helfen. Das könnte ich wirklich. Bitte, Herr Willis, lassen Sie sich
endlich helfen. Sie haben doch nichts zu verlieren. Gerade weil Sie nichts zu
verlieren haben, klammern Sie sich doch so an allem fest, was Sie unglücklich
macht. Sie haben Angst, dass von Ihnen sonst gar nichts mehr übrig bliebe. Aber
glauben Sie mir: Sie würden sogar mehr werden, mehr als Sie sich gerade
vorstellen können.
Ihr
Tilman Rammstedt
Manchmal verabredete sich mein ehemaliger Bankberater auch
außerhalb seines Büros mit mir. Im Schwimmbad zum Beispiel, im Supermarkt oder
in einem Park. »Man kann kein Tagesgeldkonto verstehen, ohne zu verstehen, was
ein Baum ist«, erklärte er mir. Er forderte mich auf, die Rinde zu berühren,
die Form der Blätter zu beachten, mit dem Finger ihre Struktur nachzuzeichnen.
Er deutete auf die Äste und Zweige, den Ansatz der Wurzeln. »Das also ist ein
Baum«, sagte er und klang enttäuscht, dass es nicht mehr war als das.
Sehr geehrter Herr Willis,
ich bin es noch einmal kurz. Nur falls Sie meine Mail eben
gelöscht haben sollten und es mittlerweile bedauern. Vielleicht schlafen Sie
jetzt auch endlich. Dann wünsche ich Ihnen eine gute Nacht und schreibe dies
hier sehr leise.
Ihr
Tilman Rammstedt
Mein ehemaliger Bankberater hat mir oft erklärt, dass etwas
das ist, was es ist. »3,5 Prozent sind 3,5 Prozent«, »Gold ist eben Gold«,
»Dienst ist Dienst und Schnaps ist Schnaps«. Bei meinem ehemaligen Bankberater
bedeckte sich alles mit sich selbst, ohne dass irgendwo eine Ecke frei blieb,
ohne dass etwas durchschien. Mich beruhigte das. Es tat gut, wenn sich
zumindest die Dinge treu blieben. »Ist ein Haus ein Haus?«, fragte ich. »Ja«,
sagte mein ehemaliger Bankberater. »Ist eine Woche immerhin eine Woche?«,
fragte ich. »Ja«, sagte mein ehemaliger Bankberater. »Ist ein Nein ein Nein?«,
fragte ich. »Leider nicht«, sagte mein ehemaliger Bankberater.
Sehr geehrter Herr Willis,
ob ich wohl heute von Ihnen höre? Das würde meinen Tag
retten. Nicht dass Sie sich dazu verpflichtet fühlen sollten, meinen Tag zu
retten, aber bestimmt würde es Ihnen in Ihrer derzeitigen Situation ganz
guttun, irgendetwas zu retten, und meine Tage bieten sich dafür hervorragend
an. Es ist jetzt gleich Mittag bei Ihnen in Kalifornien. Bis 17 Uhr Ihrer Zeit
lese ich bestimmt noch Mails. Nur falls es Sie interessiert.
Bis später also, hoffe ich.
Ihr
Tilman Rammstedt
Mein ehemaliger Bankberater benutzte gern Bilder aus dem
Tierreich. Ein gutes Portfolio müsse ich mir zum Beispiel vorstellen wie
ein Löwenrudel, eine Privatrente wie eine Ameisenstraße, einen Bausparvertrag
wie einen Regenwurm. Wenn es sich um Tiere handelte, die Laute von sich geben,
machte er diese Laute nach. Er konnte das erstaunlich gut und wusste es und
schämte sich ein wenig dafür.
Sehr geehrter Herr
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