Abgebrezelt
öffnet sich die Kilocoach-Startseite mit einer sportlich aussehenden und vor allem sehr schlanken Blondine, die garantiert noch nie an einem Kilo zu viel gelitten hat. Unter der Rubrik »Mein Kilocoach« gebe ich mein »aktuelles Gewicht« von 60 Kilo ein und übertrage dann mein Frühstück in eine dafür vorgesehene Tabelle. Der Toast, mit einer halben Portion Frischkäse, zwei Scheiben Salami und zwei Tassen schwarzer Kaffee ergeben genau 212 Kalorien. Auf meinem angebissenen Toast ist noch eine Scheibe Salami übrig, die ich jetzt wieder runternehme. 179 Kalorien. Schon besser. Am rechten Bildrand befindet sich ein graues Kuchendiagramm, von dem sich jetzt ein kleiner Teil grün verfärbt, so sehe ich auf einen Blick, wie viele Kalorien ich heute noch zu mir nehmen darf: Es sind 1032. Ich überlege kurz, ob es etwas gibt, das sich irgendwie positiv auf meine Kalorienbilanz auswirken könnte, aber da ich heute Morgen weder Sport gemacht habe, Hausarbeit schon gar nicht und auch keinen Sex hatte, kann ich auf der Habenseite nichts eintragen. Sex lohnt sich allerdings auch nicht wirklich. Um einen Marsriegel mit 242 Kalorien wegzuvögeln, müsste man laut Kilocoach exakt acht Stunden »aktiven Sex« praktizieren. Acht Stunden! Aktiv! Ich frage mich wirklich, was die damit meinen. Ist aktiver Sex unten liegen und sich nicht bewegen? Aber was ist dann passiver Sex? Pornos gucken und Chips essen? Auch wenn ich mir nicht wirklich einen Reim darauf machen kann, beruhigt mich die Tatsache, dass Sex mich in Sachen Abnehmen sowieso nicht weiterbringen würde, zurzeit ungemein. So schon schlimm genug, dass ich keinen habe. Ich melde mich beim Kilocoach ab und öffne mein Mailprogramm.
Drei neue Mails befinden sich im Posteingang. Die erste ist der Kilocoach-Newsletter zum Thema »Kilocoach für Schwangere und Stillende«, den ich ungelesen in den Papierkorb schiebe. Bei der zweiten Mail handelt es sich um den Beauty-Newsletter der Glamour , den ich mir für später aufhebe, da er Schnappschüsse von ungeschminkten Promis enthält. Ich liebe Fotos von ungeschminkten Promis! Es tut einfach gut zu wissen, dass auch Cameron Diaz beim Joggen aussehen kann wie ein Kanarienvogel nach einem Blitzeinschlag. Dann kann man sich wunderbar einreden, dass die ganzen Super-Promis ansonsten nur so gut aussehen, weil sie acht Stunden beim Top-Stylisten saßen und viermal durch den Photoshop gezogen wurden.
Als ich den Absender der dritten Mail sehe, verkrampft sich mein Magen, und mein kleines Frühstück schlägt ein paar Purzelbäume rückwärts. Ich frage mich echt, warum ich nach all den Jahren nicht mal cool bleiben kann, wenn Jens schreibt, und warum mein Körper immer noch so reagiert, als wäre ich ein pubertierender Teenager.
Jens ist mein Exfreund. Wir waren ziemlich lang zusammen, und das, was ich mit ihm hatte, hab ich immer als Kaminfeuer bezeichnet: mal hoch lodernd und stark knisternd, dann wieder auf kleiner Flamme, aber: immer heiß! Tausendmal zusammen gekommen und gefühlt noch öfter wieder getrennt. Ein ewiges und nervenaufreibendes Hin und Her, ein ununterbrochenes Auf und Ab, aber auch ein dauerndes Drunter und Drüber: emotional und sexuell. Und zu einem Zeitpunkt, an dem ich eigentlich dachte, dass es doch funktionieren könnte, hat Jens so eine dürre Barbie-Blondine mit aufgeblasenen Silikonbrüsten kennengelernt und ist mit ihr nach Hamburg gezogen. Einfach so. Mit mir ist er noch nicht mal länger als ein Wochenende in den Urlaub gefahren, und mit so einer blond gefärbten, magersüchtigen Tussi, die zwar kein Brot isst, aber exakt so dumm ist wie eins, zieht er mir nichts, dir nichts in eine andere Stadt! Für mich war das ein unglaublicher Schlag ins Gesicht, an dem ich wesentlich länger zu knabbern hatte, als ich mir das jemals hätte vorstellen können. Das Kaminfeuer war für mich erloschen, der Schornstein zugemauert.
Ich habe danach jegliche Kommunikation mit Jens verweigert, über vier Jahre lang haben wir nicht miteinander gesprochen. Vor zwei Wochen kam dann plötzlich wieder eine Mail von ihm, die mich völlig aufgewühlt hat. Ich hab mich natürlich sofort gefragt, ob ich wirklich darüber hinweg bin, das dachte ich nämlich bis dahin. Bin ich darüber hinweg? Ehrlich gesagt, ich weiß es nicht. Was Jens angeht, hat mein Gefühlsleben was von einem Besuch im Phantasialand: spektakuläre Überschläge bis hin zur Übelkeit in der Black Mamba, heftige Angstattacken in der Geister-Rikscha und 65
Weitere Kostenlose Bücher