Abgebrezelt
Waschbecken. Dann verlasse ich mit dem Filofax in der Hand vorsichtig die Herrentoilette und gehe auf mein Büro zu, vor dem mein Chef immer noch rumlungert.
»Ach, Herr Rademann. Wollen Sie zu mir?«, sage ich so geschäftig wie möglich.
»Frau Kronbach, da sind Sie ja! Ich dachte, Sie wären noch gar nicht da!«
»Ich hatte einen frühen Termin mit Herrn Schulte!«
»Mit Herrn Schulte?«
»Ja, Herr Schulte aus der Buchhaltung, wegen … der Pissoirs!«
»Was ist denn mit den Pissoirs?«
»Sie sind zu klein. Man pinkelt anscheinend immer daneben. Ich schicke Ihnen den Verbesserungsvorschlag zu!«
Ich sehe Rademann an, dass er enttäuscht ist. Er hätte mir viel lieber eine weitere Abmahnung erteilt. Ich lächle ihn an.
»Kann ich vorher schon irgendetwas für Sie tun, Herr Rademann?«
»Ja, Sie können an Ihre Arbeit gehen!«
Mit diesen Worten stapft mein Chef davon. Der war also nur hier, um mich zu überprüfen. Big Boss Stasi-Arsch is watching you! Als Rademann um die Ecke gebogen ist, kehre ich wieder zur Herrentoilette zurück und hole meine Sachen. Herr Schulte ist mittlerweile verschwunden, und ich hoffe, dass er kein irreversibles Trauma davongetragen hat. Während mein Rechner hochfährt, gehe ich in die Küche, um mir einen Kaffee zu holen. In der Küche treffe ich Felix, Mitte vierzig, Außendienstler mit Familie und stetig wachsendem Bauchansatz, der sich gerade eine Tasse aus dem Schank nimmt. Er gibt mir auch eine und lässt mich zuerst an die große Thermoskanne mit Kaffee.
»Hey, Jessi! Na, alles klar?« Er schaut an mir runter. »Was siehst du wieder zum Anbeißen aus!«
Ich freue mich über das Kompliment, auch wenn Felix sprachlich in den 70ern hängengeblieben scheint und sich auf eine recht unsubtile Art dauernd bei mir einschleimt.
»Hi, Felix. Vielen Dank!«
Felix starrt mir notgeil aufs Dekolleté, anscheinend hat er schon lange keine weibliche Brust mehr von nahem gesehen. Ich drücke auf den Hebel oben auf der Thermoskanne. Ganz vorsichtig und mit viel Gefühl. Der Druck auf dem Hebel ist nicht besonders groß, was bedeutet, dass die Kanne fast leer sein muss. Jetzt bloß keinen Fehler machen. Als die Tasse dreiviertel voll ist, nehme ich den Finger vom Hebel. Wenn erst mal diese fies-gurgelnde »Krrrrrrrrrrrrrrch«-Geräusch kommt, dann ist es nämlich zu spät, dann muss ich neuen Kaffee machen. Aber meine Technik ist gut, sehr gut sogar: das letzte Mal Kaffee kochen musste ich 2004. Felix starrt mir immer noch auf die Brüste, und mich wundert, dass er noch keine Speichelfäden im Mundwinkel hat.
»Am liebsten würde ich … «, setzt er an, und ich unterbreche ihn schnell, weil man chronisch untervögelte Männer über vierzig manchmal vor sich selber schützen muss.
»Wie geht es denn deiner Frau?«
»Meiner Frau? Äääh … ganz gut, aber … «
Bevor er weiterreden kann, schnappe ich mir meine Tasse und verlasse mit einem »Bis später, Felix!« schnell die Küche. Es ist kurz vor meinem Büro, als ich das gurgelnde »Krrrrrrrrrrrrch« aus der Küche höre.
Ich lasse mich in meinen ergonomischen Bürostuhl fallen, logge mich bei Kilocoach ein, um mein Abnehmziel nach oben zu setzen. Mindestens drei Kilo in vier Wochen! Ich gebe mein neues Ziel ein und drücke den Enterknopf:
Um 3 Kilo in 28 Tagen abzunehmen, dürfte Ihr Kaloriennettowert 760 kcal/Tag nicht überschreiten. Mit diesem Wert ist auf längere Sicht eine ausreichende Nährstoffversorgung nicht gewährleistet. Bitte ändern Sie Ihr Abnehmziel!
Ich starre auf meinen Bildschirm. Mein Abnehmziel ändern? Das kommt ja überhaupt nicht in Frage. Was ist denn das für ein dämliches Programm? Drei Kilo in vier Wochen ist ja wohl kein Hexenwerk. Manche Hollywood-Stars nehmen zehn Kilo ab in vier Wochen! Von wegen Abnehmziel ändern, nicht mit mir! Ich bezahle monatlich dafür, dass ich mit Hilfe dieses vorlauten Programms abnehme, und das werde ich auch. Ich probiere ein bisschen mit den Zahlen rum, ändere aktuelles Gewicht, Größe und Zielgewicht, und nach ein paar Minuten lehne ich mich stolz zurück.
Ich hab den Kilocoach überlistet! Gut, ich bin ab sofort nur noch 1,38 m groß, wiege 60 Kilo und bin damit kleinwüchsig und zu fett. Ich darf nur noch 888 Kalorien am Tag zu mir nehmen. Das wird zwar hart, ist aber machbar. Dann gebe ich bei Google »Anti Aging Köln« in das Suchfeld ein. Google findet 90 600 Einträge dazu. Offenbar bin ich nicht die Einzige, die sich in dieser Stadt zu alt fühlt.
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