Abgetaucht
Sie
fühlte sich nicht wie ein kleiner Fisch im Wasser, eher wie ein riesiges Walross, das behäbig einen Fluss durchquerte.
Sogar Jabali erkannte, dass ihre Gleitphasen viel zu kurz gerieten. Und Ilka hatte nur noch einen Tag.
Am nächsten Tag fand das letzte offizielle Training vor dem Schulvergleichskampf statt. Dabei wurden auch die Staffelplätze
für die wichtige Freistilstaffel ausgeschwommen. Die ersten vier kamen ins Team, die Schnellste wurde als Schlussschwimmerin
eingesetzt. Diese Position hatte normalerweise immer Ilka ergattert. Und sie war stolz darauf. Oft hatte sie Siege auf den
letzten Metern rausgeschwommen, scheinbar unmögliche Abstände noch aufgeholt. Das waren eigentlich immer die schönsten Momente
gewesen. Viel schöner als ein Sieg in einem Einzelrennen. Klar waren die anderen Staffelpositionen genauso wichtig, aber das
Gefühl, als Schlussschwimmerin ins Wasser zu gehen, war eben doch ein anderes.
Entscheidung
Schon auf dem Startblock spürte Ilka, dass heute alles anders sein würde. Sie versuchte noch, sich einzureden, dass sie sich
nur unnötig verrückt machte. Warum sollte es gerade heute nicht klappen? Und doch hatte sich dieses Gefühl in ihr festgebissen
wie eine hartnäckige Zecke in der Haut.
Entgegen ihren Gewohnheiten ließ Ilka einen Blick zu Frauke schweifen. Frauke: das pure Selbstbewusstsein, der reine Siegeswille,
die totale Konzentration!
Ilka hingegen fühlte sich flatterhaft, unsicher und überhaupt nicht in Form.
Und so bildete sich in ihrem Kopf der schlimmste Gedanke, von dem ein Sportler unmittelbar vor einem Wettkampf heimgesucht
werden konnte: Ich werde verlieren!
Dabei war es noch nicht einmal ein Wettkampf, sondern lediglich das offizielle Abschlusstrainingvor den Schulmeisterschaften. Doch für Ilka besaß dieses Training mittlerweile eine genauso große Bedeutung wie die bevorstehende
Meisterschaft selbst.
Nun war es so weit. Es gab kein Zurück mehr. Ein letzter Blick hoch zu Jabali, der sie zusammen mit Lennart vom Rang aus unterstützte.
Linh und Michael fehlten.
Wieso fehlten die?, fragte sich Ilka und wurde noch unsicherer.
Trotzdem versuchte sie, alles Störende aus ihrem Kopf zu vertreiben; sich nur auf diese 100 Meter zu konzentrieren. Wie sie es vor jedem Wettkampf auch tat. Jetzt zählten nur die nächsten Sekunden im Wasser.
Und schon ging es los.
Der Startpfiff ertönte – und Ilka hatte plötzlich den Eindruck, das Geräusch hätte nur für sie erst einen Umweg um die ganze
Halle gemacht, bevor es in ihren Ohren ankam. Ehe sie begriff, dass der Start bereits erfolgt war, sah sie Frauke schon im
Wasser.
Mit einem mächtigen Satz sprang Ilka hinterher.
Heute war alles anders!
Frauke schwamm voran. Ilka setzte nach. Zwar gelang es ihr, mit mächtigen Zügen den Abstand schnell zu verringern, doch diese
Aufholjagd kostete Kraft, die ihr am Ende womöglich fehlen könnte.
Und: Dieses Bild der vorausschwimmenden Frauke rief sofort Ilkas Erinnerung an Thuys Unfall wieder wach. Die kläglich um Hilfe
rufende Thuy. Ilkas vergebliche Versuche, Frauke zum Stoppen zu bewegen. Die um Luft ringende Thuy und die stetig weiterschwimmende
Frauke. Die Rettung. Der schimpfende Vater. Der Diebstahl. Fraukes Vorwurf. Das Misstrauen ihrer Freunde.
Ilka sah kurz schräg hinüber auf die Nebenbahn und erkannte, wie Frauke wendete. Jetzt schon! Der Abstand hatte sich vergrößert.
Und zwar dramatisch.
Ilka verfluchte sich. Legte alle Wut in die nächsten Armzüge, verzichtete dabei aufs Atmen, um Zeit einzusparen, die sie zuvor
vertrödelt hatte. Sie wendete. Soweit sie es erkennen konnte, als Vierte! Von sechs Schwimmerinnen. Eine Katastrophe. So langsam
war sie noch nie gewesen. Alles eine Kopfsache. Das wusste sie. Aber was sollte sie tun?Sie konnte ihren Kopf nicht abschrauben und für die Zeit des Endspurts auf den Beckenrand legen. Der Kopf musste mit.
Verdammt. Verdammt. Verdammt.
Ilka legte jede Vernunft ab, scherte sich nicht um Krafteinteilung oder Taktik. Jetzt galt es nur noch zu schwimmen. Zu schwimmen.
Zu schwimmen. So schnell sie irgend konnte.
Und sie kam heran.
An der Dritten vorbei. Anschluss an die Zweite. Gleichstand mit ihr. Auch an ihr vorbei.
Aber die Kraftanstrengung machte sich in den Muskeln bemerkbar. Die Arme brannten. Viel zu früh. Frauke war noch eine ganze
Länge voraus. Nicht mehr einholbar.
Doch Aufgeben war nicht drin. Nicht, solange das Rennen noch nicht beendet
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