Abscheu
»Was hast du mit ihm angestellt? Hast du – hast du etwa ein Verhältnis? Das doch wohl nicht, oder Claire?«
Ich schlage die Augen nieder
»Oh, Claire. Nein, oder?«
Ich schüttele den Kopf und nehme sie in den Arm. »Alles wird gut, ganz bestimmt, mach dir keine Sorgen. Ich gehe mal eben zu ihm.« Meine Stimme klingt weniger sicher, als ich mich fühle.
Harald sitzt vor seinem Laptop im abgedunkelten Arbeitszimmer. Reglos. Das Gesicht gefangen im grauen Schein des Bildschirms. Er blickt nicht auf, um festzustellen, wer hereingekommen ist.
Er hat aus dem Teeglas getrunken, wie ich sehe. Er ist nicht apathisch. Gott sei Dank. Hier sitzt ein Mann, der sich mit der Situation keinen Rat mehr weiß und deswegen nicht mehr reagiert.
Ich gehe zum Fenster und öffne die Läden, sodass das Sonnenlicht ins Arbeitszimmer fällt und weiche, goldene Streifen über Haralds Gesicht und seinen blauen Morgenmantel wirft. Ich stelle die Sporttasche auf den Boden und bleibe stehen.
Ich würde ihn am liebsten mit Fragen überhäufen, aber irgendwie erscheint es mir besser, damit noch ein wenig zu warten. Die Stille fühlt sich nicht bedrückend, sondern einfach nur gut an.
Ich ziehe mir einen Stuhl aus der Ecke heran, stelle ihn neben den Schreibtisch und nehme darauf Platz. Schlage die Beine übereinander. Ich betrachte ihn, diesen großen Mann, der da so reglos auf dem Ledersessel sitzt. Anschließend nehme ich mir genügend Zeit, die verrückten Geschehnisse und Eindrücke von heute noch einmal Revue passieren zu lassen und ihnen einen Platz zuzuweisen, wenn auch nur vorübergehend. Ich halte jedoch inne, als mir klar wird, dass mich das vom Wesentlichen ablenkt. Später. Später ist noch genügend Zeit, nachdem alles beredet ist und wir miteinander die vielen langen und schwierigen Gespräche geführt haben, die so dringend nötig sind und die eigentlich schon viel früher hätten stattfinden müssen. Und nachdem wir die tiefen Risse in unserer Familie und der Firma mit dem Vermögen gekittet haben, das ich aus meinem Schließfach geholt habe.
Selten zuvor habe ich mich so stark gefühlt. So klar vor Augen gesehen, was ich will und warum. Noch nie zuvor sind mir meine Prioritäten so drastisch bewusst gewesen. Dabei habe ich kaum darüber nachgedacht. Ich hätte ja nicht einmal die Zeit gehabt, das Ganze bis in alle Einzelheiten zu überlegen. Ich habe ganz und gar intuitiv gehandelt, vielleicht sogar instinktiv . Vermutlich bin ich mir deswegen so sicher, dass ich das Richtige tue.
Mein Platz ist hier, bei Fleur und Charlotte, bei meiner Mutter, Harald und Ravelin. Hierher gehöre ich, auf die Insel, denn hier will ich sein und hier werde ich gebraucht.
Harald blickt auf. Zweifelnd. Sieht mich mit blutunterlaufenen Augen unsicher an.
Ich beantworte seinen Blick, betrachte sein Gesicht. Die tiefen Falten zwischen seinen Nasenflügeln und seinen Mundwinkeln, seine buschigen Augenbrauen, die ich unbedingt wieder einmal stutzen muss, die dunkelbraunen Locken, die ihm über die Schläfen fallen. Die leicht gewellte Stirn und die herzförmigen, weichen Lippen.
Unwillkürlich lächle ich. Ich liebe diesen Mann.
Ich liebe diese Familie.
Alles wird gut. Ich bin mir ganz sicher, dass alles gut wird. Dafür werde ich sorgen.
She’s sowing seeds
She’s burning trees
Yes
She’s a supergirl
Supergirl – Reamonn
Danksagung
Annelies & Berry
José, Monique, Leo & Jeanine
Allen bei Ambo I Anthos
Der Abschnitt, den Claire vorliest, stammt aus dem Jugendbuch Der Gruselbus 4 von Paul van Loon
Weitere Kostenlose Bücher