Abscheu
dadurch erleichtert, dass ich in letzter Zeit immer so müde bin.«
Tut mir leid, Mama.
Das Mitgefühl, das ich hinter den dünnen Brillengläsern des Hausarztes zu lesen meine, bilde ich mir wahrscheinlich nur ein, aber trotzdem wage ich einen Versuch: »Ich wäre Ihnen sehr dankbar, wenn Sie mir etwas zum Schlafen und ein Beruhigungsmittel verschreiben könnten. Es wäre ja nur für ein paar Wochen.«
»Selbstverständlich«, sagt er und richtet seine volle Aufmerksamkeit wieder auf seinen Computer.
Vor Erleichterung schließe ich kurz die Augen. Heute Nacht werde ich schlafen. Niemand wird es schaffen, mich eine weitere Nacht wachzuhalten.
Über alles andere denke ich später nach.
Zwei
Die Texte für die Werbeanzeigen, die wir im Internet und in den besseren Wohnzeitschriften platzieren, schreibe ich gerne selbst. Im Grunde könnte ich das Robertjan und Anton überlassen, aber ich lege nun einmal Wert darauf, diese Aufgabe persönlich zu übernehmen.
Es hat mir immer schon Spaß gemacht, die Texte zu entwerfen. Es ist eine Wissenschaft für sich, ein Haus kurz und bündig und zugleich werbend zu beschreiben, mit den Worten und in dem Stil, die dem Gebäude gerecht werden. Ich glaube, dass ich das ziemlich gut kann. Regelmäßig erhalte ich Komplimente von Kollegen aus unserer Branche, aber auch von Käufern und Redakteuren der Zeitschriften, in denen ich inseriere.
Die Wahl eines bestimmten Hauses hat weniger mit vernünftigen Argumenten und konkreten Fakten zu tun, als allgemein angenommen wird. Zum größten Teil beruht sie auf Gefühlen. Man muss sich in ein Haus verlieben, es muss einen berühren, ein Haus muss zu einem passen. Dann nimmt man zur Not in Kauf, dass es etwas weiter außerhalb oder an einer viel befahrenen Straße liegt. Liebe auf den ersten Blick kann sich schon beim Betrachten von Fotos oder dem Lesen eines Werbetextes einstellen. Daher sollte man die Wirkung von Anzeigen niemals unterschätzen.
Schon die Wortwahl ist wichtig. Beispielsweise bedeutet es einen Unterschied, ob man von einem Nebengebäude oder einem Kutschenhaus spricht, ob man das Wort »groß« oder »großzügig« wählt, ob von einem »Schlafzimmer« oder dem »Master Bedroom« die Rede ist, ob ein Haus »gemütlich« ist oder eine »behagliche Atmosphäre« ausstrahlt.
Ich verkaufe Häuser der oberen Preisklasse. Meine Kunden können in der Regel mindestens eine Million oder mehr anlegen und haben hohe Qualitätsansprüche – sie sind eben verwöhnt, wie Claire es ausdrücken würde. Sie haben schon vieles gesehen und lassen sich nicht so schnell beeindrucken. Wenn ihnen ein Gebäude gefallen soll, muss es über gewisse Besonderheiten verfügen.
Wenn also ein Haus in der Nähe eines Golfplatzes liegt oder Ausblick auf ein malerisches Schloss bietet, darf man das nicht unerwähnt lassen. Angenommen, das Haus wurde häufig von einer respektierten und bekannten Person besucht, dann baue ich meinen Werbetext nicht selten gänzlich darauf auf. Wer möchte nicht in einem Haus wohnen, in dessen Garten van Gogh gesessen und seine Bilder gemalt hat? Oder in dem einst Königin Juliana übernachtet hat? Dabei muss man die Tatsachen immer ein wenig schöner darstellen, als sie in Wirklichkeit sind.
Um meine Zielgruppe anzusprechen, inseriere ich in landesweit erscheinenden Wochenzeitschriften, manchmal auf drei bis vier Seiten. Solche Anzeigen sind sehr kostspielig, und obwohl die Verkäufer die Kosten mittragen, ist es budgettechnisch gesehen nicht immer die glücklichste Wahl. Dennoch kann und will ich mit dieser Tradition nicht brechen. Anzeigen von Ravelin Immobilien müssen regelmäßig in Zeitschriften wie Résidence erscheinen. Damit geben wir auf eine stilvolle Art zu verstehen, dass wir ebenso erfolgreich sind wie unsere Klientel.
Um unsere regionale Bekanntheit zu konsolidieren, habe ich es mir zur Aufgabe gemacht, wöchentlich Anzeigen von einer halben Seite Länge in den Regionalzeitungen erscheinen zu lassen. Wir bilden dann nur ein Foto auf weißem Hintergrund ab, also keine bunte Briefmarkensammlung, sondern exklusiv eine einzige, außergewöhnliche Immobilie, die dadurch ganz im Mittelpunkt steht. Selbstverständlich treten wir als Sponsor für Sportvereine auf und spenden für verschiedene gute Zwecke, die der Mittelstand, die Angestellten der örtlichen Banken und der Gemeinde bedeutsam finden. Denn auch diese Leute brauchen wir.
Das ist die Art, wie bei uns traditionell gearbeitet wird. So hat mein
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