Abscheu
denn?«
»Meinst du Bambis Toilette?«, ruft meine Mutter aus dem Wohnzimmer.
»Bambis Toilette?«
Meine Mutter erscheint in der Tür. »Bambi geht jetzt fast immer auf die Toilette. Wie eine Katze. Ein kluger Hund. Sie hat es schon nach zwei Tagen verstanden. Warte, ich räume das mal schnell weg.«
Bambi trippelt heftig wedelnd an meiner Mutter vorbei. Ihre Krallen ticken über das Linoleum. Sie stellt sich neben mich, legt die lang behaarten Ohren an, schnuppert an ihrem eigenen Kot und blickt dann fröhlich zu mir auf. Ihre Zunge hat die Farbe einer Zuckerstange.
Ich streichle über ihre seidenweichen Haare, die ihr gescheitelt und ohne ein Knötchen links und rechts am Rücken hinunterhängen.
Meine Mutter nimmt das Klo, stellt es auf die Anrichte und packt den Haufen in Zeitungspapier ein, als sei es ein Fisch vom Markt. Sie wirft das Paket in den Mülleimer und holt einen neuen Stapel Zeitungen aus einem Karton.
»Warum gehst du mit dem Hund nicht Gassi, damit er draußen sein Geschäft erledigen kann?«, frage ich.
Sie zögert einen Augenblick. »Ich wage mich abends nicht mehr auf die Straße«, antwortet sie dann schüchtern. Ihr Blick ist in sich gekehrt, und sie reibt sich nervös die Hände. »Letzte Woche wurde hier einer niedergestochen, Claire. Ein junger Mann, dreiundzwanzig Jahre alt. Da ist ein Streit aus dem Ruder eskaliert.«
Ich ignoriere ihren sprachlichen Lapsus und blicke sie alarmiert an. »Und das erzählst du mir jetzt erst?«
Sie stellt das Klo wieder auf den Boden und weicht meinem Blick aus. »Ich wollte dich nicht beunruhigen.«
»Wo ist das passiert?«
Sie zeigt in Richtung Wohnzimmer. »Hier schräg gegenüber, an der Imbissbude. Ich saß auf dem Sofa und habe alles beobachtet.«
»War es ein Junkie?«
Sie zuckt mit den Achseln. Dann wäscht sie sich gründlich die Hände, nimmt das Schneidebrett von der Anrichte und geht damit ins Wohnzimmer. »Es ging um zehn Euro, Claire. Hier wird man inzwischen wegen zehn Euro auf offener Straße abgestochen.« Ich beiße mir leicht auf die Unterlippe und folge ihr.
Schon liegt es mir auf der Zunge, ihr von Haralds und meinen Plänen zu erzählen, aber ich beherrsche mich noch rechtzeitig. Harald mag davon überzeugt sein, dass schon bald alles geregelt sein wird, aber ich will die Möglichkeit nicht ausschließen, dass er es diesmal nicht schafft. Meiner Mutter falsche Hoffnungen zu machen, wäre das Letzte, was ich will.
»So, genug gejammert«, sagt sie. »Die Zeiten ändern sich nun mal. Das Viertel kommt immer mehr herunter. Man kann es nicht ändern.« Sie schiebt mir ein Stück Kuchen zu. »Aber wegen dieses Abschaums wage ich mich nicht mehr auf die Straße. Wenn dein Vater noch leben würde, wäre es nicht so weit gekommen. Dann würde jetzt alles anders aussehen.«
Ich reagiere nicht. Die Liebe hat meine Mutter nicht nur blind gemacht, sondern auch ihr Urteilsvermögen getrübt. Und über die Toten nur Gutes.
»Nimm dir noch ein Stück.« Demonstrativ schiebt sie das Schneidebrett über den glänzend polierten Nussbaum-Wohnzimmertisch zu mir herüber. Bambi beobachtet sie, leckt sich über die Schnauze, stellt sich auf die Hinterbeine und hüpft dann mit schief gelegtem Kopf wie ein perfekter Zirkushund rückwärts. Man kann ihr unmöglich widerstehen. Als meine Mutter einmal kurz nicht aufpasst, füttere ich dem Hund Kuchen.
»Hast du in der letzten Woche jemanden aus der Verwandtschaft gesehen oder gesprochen?«, frage ich, und mir wird bewusst, dass ich diese Frage nur stelle, um mich zu beruhigen. Der Gedanke, dass meine Mutter ihre Tage hier größtenteils allein verbringt, ist mir unerträglich. Ich würde sie gerne jeden Tag anrufen, morgens und abends, damit ich weiß, dass sie morgens gesund aufgestanden ist und sich abends wohlbehalten wieder zu Bett gelegt hat. Ich würde es tun, wenn sie es nur erlauben würde.
»Tante Magda hat mich letzte Woche angerufen, aber wie du weißt, kann ich nicht besonders viel mit ihr anfangen. Mit ihr ist es dasselbe wie mit allen anderen: In unserem Alter jammern alle nur noch. Dieses ständige Gerede über Krankheiten, Zipperlein und anderen Kram! Darauf habe ich einfach keine Lust, dafür fühle ich mich zu jung. Alles Unsinn.« Sie blickt mich an. »O je, jetzt fange ich auch schon an. Erzähl mir lieber mal, wie es den beiden Mädchen geht. Ich bin wirklich enttäuscht, dass du sie nicht mitgebracht hast, Claire. Ich habe Figürchen vom Supermarkt für sie gesammelt.«
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