Abschied Von Freistatt
erstaunt hätten. Er sah auf ihren Seelen die Narben von Grausamkeit und Enttäuschung und Verzweiflung. In vielen fand er Eifersucht und Gier. Fast überall stieß er auf Angst.
»Angst?« Myrtis lachte bitter, als das letzte Mädchen gegangen war. »Natürlich haben sie Ängste - alles was sie haben, ist ihre Schönheit. Jede fürchtet sich vor dem, was kommt, wenn diese Schönheit verblaßt ist. Die Aufmerksamkeit, die ihnen ihre Liebhaber entgegenbringen, gibt ihnen Sicherheit. Aber du solltest noch einmal hinsehen, Lalo - das ist nicht alles, was deine Bilder zeigen.«
Blinzelnd betrachtete er die schattierten Hintergründe, mit denen er seine Skizzen versehen hatte, und erkannte, daß diese mehr waren als zufällig aufgetragene Striche. Nicht nur die Porträts stellten Angst dar, die Ängste selbst erschienen auf den Blättern. Er schüttelte mitleidig den Kopf, als er verstand, was für den Ausdruck der Gesichter verantwortlich war.
»Dies sind Eure Geister, Madam Myrtis«, sagte Darios.
»Zerstöre sie!« rief sie aus.
»Das kann ich nicht.«, erwiderte Lalo. »Es sind nicht meine Ängste. Aber vielleicht kann ich sie verändern.« Ein paar
Striche fielen dem Radiergummi zum Opfer, und einige geschickte Linien verwandelten einen Dämon in einen Gott, ein vom Alter ausgezehrtes Gesicht in eines von heiterer Gelassenheit, Unzufriedenheit verschwand von einem hübschen Mund, und in traurige Augen zog wieder Hoffnung ein. Die Skizzen waren einfach. Nach kurzer Zeit hatte er sie so verändert, daß die Mädchen sie entzückt in ihren Schlafgemächern aufhängen würden.
»Warten wir einmal ab, ob das die Atmosphäre verbessert.« Er gab Myrtis die Bilder.
»Aber das ist nicht mehr das, was Ihr gesehen habt!« warf Darios ein.
»Nein, aber wenn Madam Myrtis diese Skizzen den Mädchen gibt, werden sie sie vielleicht so sehen und glauben, und indem sie es glauben, auch wahr werden lassen«, antwortete Lalo, und er erinnerte sich daran, was Molin Fackelhalter von ihm verlangt hatte. »Ich würde nur zu gerne wissen, was diesen Ängsten plötzlich so große Macht verliehen hat!«
»Meine Herrin Kurrekai ist eine der Mächtigen, die der Beysa selbst dienen«, sagte das Mädchen lachend zu ihrem Soldaten, »mit einer Schlange als Halsschmuck und allem. Sie hat für jeden Tag in der Woche einen anderen Kopfschmuck, und sie ist großzügig. Warum sollte ich Geschenke von dir brauchen?«
»Auch das hier nicht?« brummte Ottar. Er holte etwas aus seiner Tasche hervor und hielt es ihr scheu hin. Das Mädchen stieß einen überraschten Ruf aus, als die Silberkugel ausgewickelt vor ihr in der Sonne glitzerte. »Hübsch, nicht wahr? Hat deine Herrin auch so etwas? Wenn du mit mir ausgehst, werde ich auch großzügig sein.«
Das Mädchen musterte ihn abwägend. Ottar sah eigentlich gar nicht so schlecht aus. Er drückte ihr einen nassen Kuß auf die Handfläche, und sie fühlte ein warmes Glühen.
»Also heute nacht?«
Sie nickte, ließ lachend die Silberkugel in ihre Schürzentasche fallen und sprang davon. Sie war kaum um die erste Ecke gelaufen, als der Bursche schon vergessen war. Die Silberkugel glitzerte so zauberhaft. Es fiel ihr schwer, sie nicht immerzu in die Hand zu nehmen, selbst bei der Arbeit.
In dieser Nacht träumte sie davon, in einer vergoldeten Sänfte getragen zu werden von Sklaven, die im Aussehen zueinander paßten, während ein ganzer Trupp barbarischer Krieger ihr folgte, von denen jeder Ottar wie aus dem Gesicht geschnitten war. Aber die Sänfte bog in eine düstere Gasse ein. Sie schrie und wurde unsanft abgesetzt. Dann zogen grobe Hände sie auf die Straße und zerrten an ihren Kleidern. Harte Körper preßten sich gegen den ihren.
Am nächsten Morgen war sie ungeschickt, als sie das Frühstück auftrug für ihre beysibische Herrin, die an diesem Tag Dienst tat bei der Beysa. Als sie einen Korb Orangen reichen wollte, stolperte sie, und die Silberkugel fiel aus ihrer Schürze und rollte über den Boden.
»Wie hübsch!« sagte die Beysa und streckte die Hand aus.
Mit langen weichen Pinselstrichen trug Lalo die Grundierung für den Hintergrund auf. Er wußte, daß Molin Fackelhalter ihn beobachtete, arbeitete aber ruhig weiter. Es war stumpfsinnige Arbeit, doch die Haltbarkeit des fertigen Werkes hing von der Sorgfalt ab, die er jetzt walten ließ. Hierüber zumindest konnte der Priester nicht mit ihm streiten. Die Luft heizte sich auf, als die Morgenstunden vergingen, aber unter dem
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