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Abschiedskuss

Abschiedskuss

Titel: Abschiedskuss Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Amanda Hellberg
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wollen.
    Dennis fischt einen Hundekeks und einen weiteren kleinen Gegenstand aus der Tasche seiner Wolljacke. Die Hunde bekommen je einen halben Keks, nachdem sie brav Pfötchen gegeben haben. Ich bekomme den Gegenstand.
    »Hier ist der Schlüssel zum Zimmer Ihrer Mutter. Nummer drei im ersten Stock. Sehen Sie sich um. Sie kommen doch allein zurecht, oder?«
    Tür Nummer drei schlägt hinter mir zu. Mamas Zimmer ist kühl. Die Fenstersprossen sind braunschwarz verschimmelt. Der Schimmelgeruch steigt mir in die Nase. Und etwas anderes. Ein Duft, der wie ein dünner Schleier unter der vergilbten Decke hängt.
    Maiglöckchen.
    Die schweren Gardinen reichen bis zum Fußboden, aber trotzdem zieht es durch die alten Fensterrahmen. Aus dem Korridor sind Schritte zu hören. Jemand begibt sich eilig ins nächste Stockwerk, und ich habe das Gefühl, dass die Wände vibrieren, so hellhörig ist es.
    Ich hebe die gestreifte Tagesdecke an. Die durchgelegene, schmale Matratze hat ein paar undefinierbare Flecken. Der Teppichboden ebenfalls. Ich beuge mich vor, um unter das Bett zu schauen. Nur ein paar Illustrierte.
    Ich lasse mich auf einen der beiden Küchenstühle sinken und vermeide den Blick auf das Bett. Ich bin so entkräftet, dass mein Arm zittert, als ich mit der Handfläche über den zerkratzten kleinen Tisch streiche. Die Aussicht ist gar nicht so übel, aber eine dunkelgraue Wolkenbank zieht von der Küste herauf, und der sonnenhelle Tag wird plötzlich düster und ungemütlich. In diesem trostlosen Zimmer ist sie nicht. Hier gibt es überhaupt nichts für mich.
    Ich verlasse Brighton in einem Zug, in dem die Luft gleichzeitig spätsommerlich schwül und schon fast herbstlich feuchtkalt ist. Mein Waggon riecht nach Druckerschwärze und Leuten mit Kaffeefahne. Sonderlich viele Mitreisende habe ich nicht.
    Als der Zug beschleunigt, habe ich das Gefühl, als zöge eine gewaltige Kraft mich fort. Dennoch scheint mir, als habe sich ein kleines Stück meines Inneren in Brighton verhakt, als würde ein in mir verankerter, dünner, aber starker Faden auf dem Gleis ausgerollt.
    Der Streckenverlauf bietet ein Abschiedspanorama dieser bonbongrellen Stadt am Wasser, die eigentlich eher ein zu groß geratenes Fischerdorf oder ein in die Jahre gekommener, quirliger Kurort ist. Giftig. Süchtig machend. Ein Ort mit einem ganz besonderen, geheimnisvollen Charme. Das habe ich gespürt, obwohl ich nur eine einzige Nacht dort verbracht habe.
    Ein Reiz, der auf die Andersartigen – die Verletzlichen ebenso wie die Starken – im selben Maße wirkt. Der Ort, für den sich Mama entschieden hatte. Der Ort, an dem sie ein Leben als Hure begonnen hat.
    So. Jetzt habe ich das schmutzige Wort gedacht. Warum ein Leben als Hure? War das ein letzter Ausweg, etwas, in das sie aus Not hineingeraten war? Falls ja, wo ist sie gestrauchelt? Warum hatte sie nicht bei uns bleiben können? Bei mir? In einem schwedischen Nest, bei ihrer Familie, mit einer normalen Arbeit? Wie viel hatte sie im Voraus geplant, und was hatte sich einfach so ergeben?
    Ich weiß nichts. Die Entscheidungen und Wünsche meiner Mutter sind in meinem Bewusstsein von einer dünnen, rauchfarbenen Glasglocke umgeben. Ihre Verhaltensweisen und Reaktionen wirken gleichermaßen ungreifbar wie unbegreiflich. Wenn ich meinen inneren Blick schärfe, bis es schmerzt, kann ich eben noch erkennen, dass sich dort drinnen in dieser Glasglocke etwas bewegt. Nervöse Schattenschleier, flüchtige Dämonen. Eine Art Erklärung. Aber ich kann durch das Glas hindurch keine Details unterscheiden, mein Blick dringt nicht hindurch.
    Ein letztes Aufblitzen des Wassers, und Brighton verschwindet im Takt der Schwellen wie eine flüchtige Erscheinung hinter dem üppigen Grün der Landschaft. Dicht belaubte Bäume werfen ihre Schatten auf die Schienen, und ich sehe, dass der Herbst mit seinem Farbkasten unterwegs war und hier und da im Laub einen gelben Klecks hinterlassen hat.

4. Kapitel
    Obwohl sich Oxford durch eine unbestreitbare architektonische Pracht auszeichnet, kommt es einem mit seinen kleinen Kneipen und deren egozentrischen Besuchern manchmal fast provinziell und ein wenig abweisend vor. Manchmal steht die Luft zwischen den Sandsteinpalästen und verschlossenen Kapellen vollkommen still. Wasserspeiende Fratzengesichter grinsen einen höhnisch an. Wimpel hängen schlaff herab.
    In den einzigartigen Sälen weht kein Lüftchen. Für ungeladene Gäste gibt es nichts zu sehen: Zutritt verboten. Man

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