Abschiedskuss
Bleiglasfenstern umrahmt. Dort ist auch die Portiersloge mit dem Fenster, durch das man den Eingangsbereich im Blick hat. Alle, die vorbeiwollen, müssen sich das von Raymond oder einem seiner Kollegen genehmigen lassen. Das Wohnheim erinnert an eine kleinere Burg mit Ländereien, die bis hinunter zum Fluss reichen. Auf dem Wasser, das im Dunst zwischen den Erlen hindurchschimmert, kann ich einen einsamen Ruderer erkennen.
Raymond hat mich auf den schönen Steinboden im Foyer aufmerksam gemacht und mir das schwarze Brett mit Anschlägen über Buchtauschtage, Kammerkonzerte und Tennisturniere gezeigt. Wir haben auch die Cafeteria im Keller besucht, wo es nach gebratenem Speck riecht, und die von den Studenten selbst betriebene kleine Bar sowie den großen Aufenthaltsraum im Hochparterre mit Sofas, offenem Kamin, Klavier und allen zur Verfügung stehendem Computer. Wenn Raymond auf etwas deutet, rutscht sein Uniformärmel ein Stück hoch und ein tief in seine Lederhaut geprägtes, blaugrünes Tintenherz kommt zum Vorschein.
Die Stockwerke sind durch Treppen verbunden, deren Stufen von Tausenden von Füßen ausgetreten sind. Hier und da stoßen wir auf andere Studenten, die uns ausweichen, Raymond herzlich begrüßen und mich neugierig betrachten. Hätten die Typen einen Hut auf, würden sie ihn vermutlich ziehen, denke ich.
»Haben Sie gestern im Fernsehen Arthur Bartleman gesehen?«, ruft einer der jungen Männer Raymond im Vorbeigehen zu.
»Ja, meine Güte, was für ein Zeitgenosse«, sagt mein Begleiter, und seine Miene bekommt etwas Väterliches. »Er hat ’97 hier gewohnt, wenn ich mich recht erinnere … ein echtes Genie, an der Grenze zum Wahnsinn. Und seinen riesigen Kopf, den vergisst man nie«, lacht er.
Zimmer 45 im Nordflügel ist nichts Besonderes. Die Möbel erinnern an eine bessere Jugendherberge. Einzige Ausnahme bildet eine grüne Chaiselongue, deren bloßer Anblick mich begeistert. Wir haben ein kleines gefliestes Badezimmer, in dem gerade einmal eine Badewanne, ein Waschbecken und ein WC Platz finden, sonst nichts. Es gibt einen Erker mit einem Fenster, in dem eine Lampe brennt. Meine Zimmergenossin ist nicht da. Ein dickes Kunstlexikon und einige Bibliotheksbücher liegen herum. Gauguin und Maurice Sendak liegen auf ihrem Nachttisch. Ich danke Raymond, und er lässt mich allein. Hier werde ich also jetzt wohnen. Ich und … mal sehen … Nikita Fernando. Sie hat bereits in einer erwachsenen, eleganten Schrift den Mietvertrag unterschrieben. Im Übrigen konstatiere ich, dass sich Nikita Fernando das Haar mit Anti-Frizz-Shampoo wäscht und gerne Vollkornkekse mit Schokoladenüberzug isst. Ich hoffe, sie ist nett. Wann sie wohl nach Hause kommt?
Ich lasse mich auf mein schmales Bett sinken. Eigentlich sollte ich sofort auspacken, aber ich bin zu schläfrig. Als sei jetzt, wo ich einen festen Punkt, einen Ort der Geborgenheit erreicht habe, die Luft raus. Hunger habe ich auch, aber ich bin viel zu müde, um das Zimmer zu verlassen und mich auf die Suche nach etwas Essbarem zu begeben. Ich schiele auf die Kekse meiner unbekannten Zimmergenossin. Nach einer kurzen inneren Debatte komme ich zu dem Schluss, dass es sehr dumm wäre, ohne zu fragen und ohne dass wir uns überhaupt begegnet sind, Nikita Fernando einfach etwas wegzuessen. Stattdessen begnüge ich mich mit einer braunen Banane und etwas abgestandenem Mineralwasser aus einer Plastikflasche, die ich ganz unten in meinem Rucksack finde.
Ich muss eingedöst sein, denn als ich aufwache, ist es Abend und dunkel im Zimmer. Es dauert ein paar Sekunden, bis mir bewusst wird, wo ich mich befinde, dann vergehen noch einmal ein paar Augenblicke, bis ich begreife, dass ich nicht allein bin. Aber das stimmt nicht, ich hätte sie doch hören müssen … Warum hat sie kein Licht gemacht …
Ich erstarre. Bereits ehe mir der Duft von Maiglöckchen entgegenschlägt, weiß ich, wer da ist. Es ist nicht meine neue Zimmergenossin. Das Haar ist blonder, als ich es in Erinnerung habe, und der Körper sehr viel schmaler, aber das ist sie. Die Frauengestalt steht vornübergebeugt mit dem Rücken zu mir neben den Reisetaschen. Sie ist auf dem Weg zur Tür. Die Art, wie sie sich bewegt, leicht gebückt und schwankend, hat etwas Unnatürliches an sich. Sie hält sich den Bauch und kann ihren Kopf nicht halten. Er wackelt irgendwie unheimlich hin und her. Ich liege wie von einer unsichtbaren Kette gefesselt auf dem Bett. Als ich den Mund öffne, kommt nur ein
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