Abschiedskuss

besitzt dieselbe Gabe, wie ich sie besaß, und ich werde bei Dir sein und versuchen Dir zu helfen, wann immer ich kann. Es gab Opfer und wird immer Opfer geben, aber das einzig mir Wichtige ist, dass Dein Leben so wird, wie es werden soll.«
    Sonst nichts. Keine Unterschrift. Aber unten im Umschlag entdecke ich ein gepresstes Maiglöckchen. Der Stängel ist dünn wie ein Haar, und ich wage nicht, es herauszunehmen, weil ich befürchte, es könnte in meinen Fingern zu Staub zerfallen. Trotzdem spüre ich den Duft. Er strömt wie eine liebliche Parfümwolke aus dem Umschlag, durchdringt mich und erfüllt das gesamte Zugabteil.
    Ich schlucke ein paarmal. Das fällt mir schwer, denn mein Hals ist wie zugeschnürt. Ich lehne meine Stirn eine Weile an das Fenster. Ich bin zu nichts anderem fähig.
    Draußen recken sich nackte, schwarze Äste in einen leeren Himmel. Ich sehe verschwommen ein Paar vor einem Bahnhof, an dem der Zug nicht hält. Sie umarmen sich und warten auf den nächsten Zug. Er ist blond, und einen Augenblick lang finde ich, dass die beiden an Mama und Papa erinnern.
    Einsame, stillgelegte Gleise sausen vorbei, bedeckt von welkem, gelbem Gras, in dem der Raureif glitzert. Leere Chipstüten wirbeln über menschenleere Bahnsteige. Aber alles erscheint mir schön, so lebendig und von Farbe erfüllt, als könnte ich erst jetzt richtig sehen. Ich schließe ein paar Sekunden lang die Augen, falte dann die beiden Briefe zusammen und stecke sie in eines der Seitenfächer meiner Reisetasche. Nun öffne ich den letzten Umschlag, auf dem nur mein Name steht.
    Die gemalte Weihnachtskarte ist ein Kunstwerk auf einem schlichten Stück Pappe. Ein einziges großes rotes Herz in mir vertrauter, meisterhafter Pinselführung. Ich fahre mit der Fingerspitze über die erstarrten Rillen der Farbe. Auf der Rückseite steht:
    »Geliebte Maja,
    ich denke die ganze Zeit an Dich.
    Pass auf Dich auf. Wir sehen uns nächstes Jahr.
    (Habe beschlossen, mit dem Kurs weiterzumachen – NY kann warten.)
    In Liebe, Jack«

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