Absturz
ja keine! Ich würde so gerne heiraten. Ich würde so gerne Kinder machen. Ich würde so gerne eine Familie machen. Ich würde so gerne mein biologisches Plansoll erfüllen, nicht mehr und nicht weniger. Aber er sagt es nicht. Er denkt es bloß und beschreibt lieber Stadtspaziergänge an Regentagen. Bei all den Stadtspaziergängen, Seeuferspaziergängen, Kaffeehausbesuchen, Wirtshausbesuchen, Zeltfestbesuchen, Stadionbesuchen passiert genau nichts, und es würde auch nicht mehr passieren, wenn ich sie jetzt noch einmal bearbeitete. Ich werde es lieber bleiben lassen! Hatte der junge Mann kein politisches Bewusstsein, oder konnte er bloß nicht darüber schreiben? Wusste er, wo er lebte? War er so naiv? Oder war er so dekadent? Er hatte sich ja in seinem Alter immerhin schon Brecht und Horváth einverleibt, Büchner, Sartre, Camus, Ionesco förmlich gefressen. Aber zuerst musste das Private geregelt werden, dann konnte man sich auf die Politik stürzen. Ablesbar war dieser Gedanke freilich nicht, liebe Frau Großholtz. Schon nach fünf Seiten hatte ich das dringende Bedürfnis, dem Erzähler ein Vierteljahrhundert in die Vergangenheit zurückzurufen: Lieber junger Mann! Lass dir deine Zähne reparieren! Der Rest funktioniert dann ganz von allein.
Ich weiß schon: Der junge Mann wäre tödlich beleidigt, könnte er mich hören. Das mit den Zähnen ist in Wirklichkeit nicht so einfach gewesen: Zu reparieren war bei diesen schrecklichen verkohlten Ruinen nichts mehr. Man hätte sämtliche zweiunddreißig Zahnruinen reißen und eine Prothese anfertigen lassen müssen. Aber man musste erst einmal einen Zahnarzt finden, der einen solchen Eingriff bei einem erst Zwanzigjährigen durchführte. Und dann waren damals nur die wenigsten Zahnarztpraxen so ausgestattet wie die heutigen. Der junge Mann hatte in seiner Kindheit noch Folterkammern – und nichts anderes als Folterkammern – erlebt! Die Angst vor Schmerzen, die Angst vor Qualen! Der junge Mann hatte kein Einkommen und kein Geld und konnte sich ein neues Gebiss nicht leisten. Sein Vater, letzter Repräsentant einer großbürgerlichen Familie in der Provinz, war nach der Machtübernahme der Sozialisten mit seinem Betrieb nach und nach in immer ärgere wirtschaftliche Schwierigkeiten geraten. Er hatte Kreditschulden, schlaflose Nächte und zitterte um sein »Dach über dem Kopf« – jahrzehntelang zitterte er zum Lebensende hin um dieses »Dach über dem Kopf«, im Grunde bis zum Tod, und für die Zähne des Sohnes hatte er kein Geld.
Die Angst vor Schmerzen war neben der Geldknappheit auch der Hauptgrund, warum du nie verreisen wolltest. Stimmt’s, junger Mann? Gar so viel hättest du dir auf deine Ortsbeständigkeit auch wieder nicht einbilden müssen! Wenn du dich damals über die Abenteuerlust, das Fernweh und das Reisefieber von Otto oder Erich lustig gemacht und gesagt hast, die Rückseiten der Ortstafeln deiner Stadt seien die Grenzen deiner Welt, dann war das gar nicht so brillant philosophisch, wie du es dargestellt hast! Du hättest dich bei deiner Ortsbeständigkeit gar nicht auf Immanuel Kant berufen müssen; die Zähne und der Geldmangel hätten es auch getan.
Na ja, und dann: der Stolz! Du hast ja förmlich hinausposaunt: So eine, die wegen seiner schönen Zähne mit einem zusammen ist, die brauchst du nicht! Und wie viele haben dir prophezeit, mit deiner Einstellung würdest du es einmal schwer im Leben haben! Sie hatten recht. Du hättest es dir leichter machen können. Aber du hast schon auch recht. Das wärst dann eben nicht du gewesen. Ich überlege, ob du es schwer im Leben gehabt hast. Du hast ein großartiges Leben gehabt. Du hast ein elendes Leben gehabt. Beides stimmt.
Gerade kommt eine E-Mail mit der Bitte einer Zeitschrift herein, einen Fragebogen auszufüllen. Lass mich das schnell erledigen, junger Mann, dann reden wir weiter. Du weißt schon, das ist dieser Fragebogen, den es zu deiner Zeit im Magazin der Frankfurter Allgemeinen gegeben hat, nur eben eine Schmalspurversion für die Provinz. Ebenso wie Marcel Proust fülle ich ihn jetzt schon zum zweiten Mal aus, untrügerisches Zeichen des Älterwerdens. Bei Proust war der Fragebogen noch »eine Herausforderung an Witz und Geist«, jetzt dient er eher der Befriedigung der Eitelkeit von Provinzpromis. Na ja, wie auch immer: Es bleibt ja unter uns. Was eine E-Mail ist, erkläre ich dir dann auch noch.
Die erste Frage des Fragebogens war gar keine, sondern ein zu beendender Satz:
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