Mythor - 086 - Die Chronik der Burg Narein
1.
Er stieß einen leisen Seufzer aus.
Die Flamme der kleinen Öllampe bewegte sich etwas, wurde dann wieder ruhig. Ihr milder Schein fiel auf eine Reihe pergamentener Rollen, die auf dem hölzernen Tisch lagen. Eine Feder lag auf einem gerade vorbereiteten Blatt, daneben das kleine Faß mit Tinte.
Wieder seufzte der Mann.
Er stand auf, schob den hölzernen Schemel zurück und machte ein paar Schritte. Der Klang des Auftretens war nicht zu hören; weiches Leder auf dem harten Fels des Bodens gab kein Geräusch. Der Mann trug enganliegende Beinkleider, darüber einen breiten Gürtel aus kunstvoll geflochtenem Leder. Darüber trug er eine weitgeschnittene, vorn offene Bluse. Das Haar fiel in langen schwarzen Locken herab auf den Nacken.
Der Mann trat ans Fenster.
Es war dunkel draußen. Mondlicht fiel auf das Land. Auf dem Burghof war gerade ein Wagen angekommen. Die hölzernen Räder, eisenumzinkt, schlugen hart auf das unregelmäßige Pflaster des Burghofs. Die Pferde schnaubten und scharrten mit den Hufen. Die Lager der Achsen waren schlecht gefettet, sie quietschten vernehmlich.
Aus der Küche fiel Lichtschein auf den Hof. Warmer Geruch nach frischem Brot wehte aus der Küche in die kühle Nachtluft hinauf. In einem der Nebengebäude saßen etliche beim Trunk beieinander. Gelächter war zu hören, dazwischen das Klirren von Waffen.
Der Mann hatte ein schmales Gesicht, gutgeschnitten, mit einer scharfrückigen Nase und fast weibisch geschwungenen Lippen. Dichte schwarze Brauen saßen über zwei dunklen, immer ein wenig schwermütig blickenden Augen. Sehnsüchtig sah er hinüber zu der weiträumigen Halle, in der die Amazonen beim schäumenden Bier saßen.
Der Mann hatte ein Problem.
Er war tapfer. Abenteuerlust spukte in seinem Geist. Schwerterklirren war ihm die liebste Musik, das Schnauben der Rosse, die Hitze eines langen, durchkämpften Tages. Beim Gedanken an hitzige Fehden, an Raufereien, Streit und Schlacht rollte das Blut heißer in seinen Adern, schlug sein Herz höher. Mit gefällter Lanze, Schulter an Schulter den gegnerischen Reihen entgegenstampfen, langsam, gleichmäßig, unwiderstehlich… Auf schäumendem Roß hineinzupreschen in die Phalanx des Feindes, ihn werfen, schlagen, über das Schlachtfeld zu hetzen…
»Warum ich?« murmelte der Mann. Er trat vom Fenster zurück. Der Raum war nicht sehr reich möbliert - ein hartes Bett, davor ein Stuhl. Ein Kasten, der alles enthielt, was der Mann sein eigen nennen durfte. Zwei Ampeln mit heißem Öl spendeten Licht. Die Mauern waren kahl, Steine, sorgsam übereinandergesetzt, mit wenig Mörtel verbunden. Im Sommer einem Backofen gleich, behielten diese Mauern auch des Nachts die Hitze; im Winter sorgten sie, einmal gründlich ausgekühlt, dafür, daß die Bewohner bis weit in den Sommer hinein zu frösteln hatten.
»Warum ausgerechnet ich?« fragte der Unglückliche. Er hieß Phyter und war Chronist derer, die sich das Geschlecht zu Narein nannten und zu den Großen zählten im Lande Ganzak.
»Ich bin aus der Art geschlagen«, murmelte der Chronist. Er setzte sich an den Tisch, barg den Kopf in den Händen.
Seit vielen Generationen versah seine Sippe das Amt des Chronisten. Es war eine Aufgabe, die zum Charakter der Amtsinhaber paßte - gepaßt hatte. Erlesene Vorfahren hatte Phyter gehabt, Feiglinge, deren Ruhm allseits bekannt war, Hasenfüße, wie sie selten anzutreffen gewesen waren. Galten die von Narein als die tapferste Amazonensippe im ganzen Land, so waren die Chronisten dieser Sippe für ihre Hasenherzigkeit berühmt gewesen.
Phyter wußte dies alles - die Chronik derer von Narein war vollständig und lückenlos, nicht zuletzt deswegen, weil seine jammerlappigen Vorfahren beim ersten Anzeichen von Gefahr stets das Weite gesucht hatten. In ihrer tiefverwurzelten Angst hatten sie natürlich, um der Strafe entgehen zu können, das Burgarchiv mit in Sicherheit gebracht. Es gab vermutlich auf Ganzak keine andere Sippe, deren Ruhm und Ehre so lückenlos für die Nachwelt verzeichnet worden war wie die der Bewohner der Burg Narein.
In gewisser Weise ergänzten sie sich auf diese Art hervorragend, die Vorfahren des tapferen Schreiberleins und die edlen Amazonenkämpferinnen der Burg Narein.
Der Waffenmut der Narein-Amazonen ergab immer neue Großtaten, die aufzuzeichnen Pflicht des Chronisten war - und die Fülle dieser Heldentaten konnte nur gewahrt bleiben, weil die Chronisten beim ersten Wetterleuchten sich und ihre Schriften in
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