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Äon - Roman

Titel: Äon - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heyne
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verschwand hinter dem leisen Knarren des Seils.
    »Immer schön festhalten«, erklang oben Tanners weiterhin ruhige Stimme.
    Ignazios Sinne blieben auf Hände und Seil fixiert. Qualvoll lange Sekunden verstrichen, und dann griff jemand nach seinen Armen und zog ihn hoch, über den Rand der Öffnung im Höhlenboden hinweg. Er wagte es, die Augen wieder zu öffnen.
    Er lag am Rand eines großen Lochs im Boden und beobachtete, wie ein Unterschenkelknochen über den Rand fiel und in der dunklen Tiefe verschwand. »Die Sirene oder was auch immer das war«, sagte Tanner, der das Seil einem der anderen Männer überließ und Ignazio auf die Beine half. »Die davon ausgelösten Vibrationen haben hier alles destabilisiert. Wie sieht’s aus, Ferdinand?«
    Benjer stapfte über die Knochen hinweg und wich mehreren Totenköpfen aus. Hinter ihm waren Gérômes Leute damit beschäftigt, Verschüttete aus einem Seitentunnel zu bergen.
    »Drei Tote bisher«, sagte Benjer.
    »Es hätten vier sein können«, brummte Tanner.
Ignazio wusste, dass er dieser Vierte gewesen wäre. Er wollte etwas sagen, doch das Kratzen in seiner Kehle hinderte ihn daran. Er hustete, so lange und stark, dass ihm übel wurde. Als er den Kopf wieder hob, leuchtete ihm Tanner mit seiner Taschenlampe kurz ins Gesicht und reichte ihm dann eine Plastikflasche mit Wasser. Ignazio nahm sie entgegen und trank.
    »Das war keine Sirene«, brachte er schließlich hervor.
    Tanner hatte eine Frage an Capitaine Gérôme richten wollen, drehte sich aber wieder um. »Was dann?«
    »Ich denke, wir haben einen Nephilim gehört«, sagte Ignazio. Er versuchte, ruhig und gerade zu stehen, aber ihm zitterten die Knie. »Was ist mit der Gruppe, die Krystek, Vogler und Anna Ranzani gefunden hat?«
    Tanner sah ihn noch eine Sekunde länger an, trat mit einigen raschen Schritten zu Gérôme und sprach kurz mit ihm. Ignazio folgte ihm, und Benjer ebenfalls.
    »Es besteht kein Kontakt mehr zu der Gruppe«, sagte Tanner.
    Ignazio nickte nur.
    Capitaine Gérôme gab seinen Leuten Anweisungen auf Französisch. Einige der Männer trugen Verletzte fort; die anderen trafen Vorbereitungen für den Aufbruch. Gérôme zog die Karte der Katakomben zurate, sprach mit Tanner, Benjer und zwei französischen Offizieren und faltete die Karte dann zusammen. Auf sein Kommando hin marschierten die ersten Männer mit schussbereiten Waffen in einen finsteren Tunnel; das Licht von Helmlampen eilte ihnen voraus.
    »Es geht weiter, Signor Giorgesi«, sagte Tanner. »Brauchen Sie Hilfe? Oder können Sie aus eigener Kraft gehen?«
    »Ich schaffe es schon.« Die Knie zitterten noch immer, gaben aber nicht nach, als er sich in Bewegung setzte.

    Nach einigen Schritten durch den dunklen Tunnel fiel Ignazio etwas ein. Er blieb stehen, klopfte seine Taschen ab und sah zur Höhle mit dem großen Loch im Boden zurück.
    »Meine Bibel«, sagte er. »Ich habe meine Bibel verloren.«

55
    Paris
    D ie eigentlichen Katakomben hatten sie schon vor einer ganzen Weile verlassen. Die Wände bestanden hier nicht mehr aus aufeinandergeschichteten Knochen und Totenköpfen, sondern aus Felsgestein, und viele der Höhlen, durch die sie kamen, schienen natürlichen Ursprungs zu sein. Es war eine Welt voll grauer Düsternis für Sebastian und der völligen Finsternis für Anna. In dem zweiten, tieferen Labyrinth aus Gängen, Tunneln, Stollen und Kavernen gab es keine Lampen, und es war so dunkel, dass Anna überhaupt nichts mehr sah. Sebastian hielt ihre Hand und half ihr bei schwierigen Stellen mit knappen Beschreibungen der Umgebung. Er hatte ihr in der Finsternis einmal den Finger auf die Lippen gelegt, um ihr zu verdeutlichen, dass sie nicht sprechen, nicht einmal miteinander flüstern durften, aber Sebastian fragte sich immer wieder, ob Schweigen genügte. Das Fremde steckte noch immer in ihm, stark, gierig und erwartungsvoll, ein Nephilim, der sich schnelles Wachstum und Reife erhoffte, die völlige Übernahme des Körpers, der sein Wirt geworden war. Wie viel wusste dieses Geschöpf? Hockte es in seinem eigenen Kopf und lauschte, während er dachte und überlegte? Auf welche Erinnerungen konnte es zugreifen, an welchen Gedanken teilhaben?
Durfte Sebastian überhaupt hoffen, ungestört zu denken und zu planen?
    Das Wesen hatte Sebastians Wahrnehmung erweitert. Vermutlich konnte er nicht so gut sehen wie Simon Krystek, der ganz zu einem der Sechs geworden war; er bewegte sich vor ihnen, als wären die Tunnel und Höhlen hell

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