Äon - Roman
und dämonischen Geschöpfen tanzt.
»Wir müssen Vertrauen haben«, sagt Anna. Sebastian hebt den Blick von seinen Händen - diesmal sind es wirklich seine Hände - und sieht sie an. Sie steht jetzt neben dem Kreuz, das Schlangenwesen dicht hinter ihr. »Wir müssen uns selbst vertrauen«, fügt Anna ruhig hinzu. »Anatoli
hat uns zu seinen Nachfolgern gemacht. Béla ist tot; wir sind die letzten Sapienti.«
»Wie können wir Sapienti sein, wenn wir gar nichts wissen ?«, entfährt es Sebastian. »Das ist doch absurd!«
Der erste Mann im Tunnel hob seine automatische Waffe und zielte, kam aber nicht dazu, auch nur einen einzigen Schuss abzufeuern. Simon Krystek wandte sich halb von Sebastian und Anna ab und öffnete den Mund. Er öffnete ihn unmöglich weit, fünfzehn oder zwanzig Zentimeter, und ein Brausen erklang, wie von einem donnernden Wasserfall. Sebastian, den Dolch in der rechten Hand noch immer auf Annas Hals gerichtet, wurde von einem Windstoß erfasst, der ihn zur Seite warf, gegen die Wand des Gewölbes und dann zu Boden, und auch Anna verlor den Halt, fiel ebenfalls, ihr langes schwarzes Haar vom jähen Wind zerzaust. Ein Sturm toste durchs Gewölbe und durch den Tunnel, erfasste die Männer und schleuderte sie fort, als wären sie nur Staub oder Sand. Es folgte ein Kreischen, so schrill, dass sich Sebastian die Hände an die Ohren presste, und ein Teil des Tunnels stürzte ein.
»Du musst mir helfen«, sagt Nikolaus, und Sebastian erinnert sich daran, dass er diese Worte schon einmal an ihn gerichtet hat. Wann? Und wo? Mit seinen Erinnerungen stimmt etwas nicht. Worte, die er gehört zu haben glaubt, und die Bilder in seinem Gedächtnis … Sie verschmelzen miteinander, lassen sich kaum voneinander unterscheiden. »Siehst du ihn dort unten?«
Sie stehen auf der Felsnadel, an der Dutzende oder vielleicht gar Hunderte von dunklen Geschöpfen emporklettern. Einige haben ihre Spitze erreicht und kriechen am Kreuz vorbei, aber sie kommen nicht näher heran
als bis auf etwa einen Meter - etwas scheint sie von ihnen fernzuhalten, wie die Spitze des Dolchs von Annas Hals.
Ja, Sebastian sieht den Jungen, umgeben von der schwarzen Flut. Er glaubt sogar, sein Gesicht zu erkennen, obwohl die Entfernung mehr als einen Kilometer beträgt. Er erinnert sich daran, wie er es in der Kirche gesehen hat: ein zartes Gesicht mit großen braunen Augen, in ihnen eine wache Intelligenz, aber auch noch etwas anderes, eine Tiefe, die ihm damals - damals? Es sind doch nur wenige Tage vergangen! - seltsam erschienen ist, untypisch für ein Kind.
»Ich bin in ihm gewesen, eben noch«, sagt Sebastian. »Ich selbst bin es gewesen, der die Arme gehoben und all den Kreaturen befohlen hat, an der Felsnadel hochzuklettern.«
»Weil du ein Teil von ihm bist, Sebastian«, antwortet der alte, greise Nikolaus. Er klingt müde. »Der Nephilim in dir stammt von ihm, ist aus seiner Saat gewachsen. Seine Wurzeln stecken in ihm, wie auch die der anderen. In gewisser Weise ist er ihr Vater, und ihr Fokus. Darin besteht sein Schicksal: Er, der ihre Wurzeln trägt, soll die Kraft bündeln. Warum, glaubst du, haben sie ihn mitgenommen? Es sind sechs Nephilim, nicht sieben. Er soll es sein, der die Barriere niederreißt.« Nikolaus deutet nach unten, dorthin, wo der Junge steht. »Raffaele, das Fleisch gewordene Erbe meiner Söhne und deren Söhne … Er darf seine Bestimmung nicht erfüllen. Verstehst du?«
Sebastian sieht den Greis an und denkt an den Jungen, der einst voller Vertrauen Köln verließ und an der Spitze eines Kinderheeres aufbrach, um Gott zu dienen. Dies sind die letzten Schritte des achthundert Jahre langen Weges. Und er kann sie nicht allein gehen.
»Ja, ich verstehe«, sagt Sebastian und denkt dabei an den Dolch …
Er ruhte in seiner Hand, lang und spitz, vom Staub des eingestürzten Tunnels bedeckt. Mit einer entschlossenen Bewegung
steckte er ihn ein und half der hustenden Anna auf die Beine.
»Wir dürfen nicht fliehen«, flüsterte er ihr zu. Das Kreischen aus Krysteks weit aufgerissenem Mund ertönte nicht mehr, aber es krachte und donnerte noch immer in den Katakomben, und dichte Staubwolken hatten sich gebildet. Sebastian hoffte, dass Krystek abgelenkt war und nichts von den Worten bemerkte, die er an Anna richtete. »Wir müssen zu Raffaele«, raunte er. »Er soll die Verbindung schaffen. Ich weiß es von Nikolaus. Er …«
Eine Gestalt kam aus dem wogenden Staub, der im orangefarbenen
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