Alasea 05 - Das Buch der Entscheidung
sich nur zu leicht.
Vorbei. Heute Morgen wurde mir bei der Betrachtung dieser Eier klar, dass ich des Potenzials müde war und nur noch eines ersehnte: ein Leben, das Grenzen hat.
Ein Leben mit einem Anfang, einer Mitte und vor allem einem Ende.
Ein abgeschlossenes Leben das ist es, was ich wiederhaben möchte.
So will ich denn noch einmal die Feder in die Tinte tauchen und mit der Zauberkraft des geschriebenen Wortes Lebensläufe und Welten heraufbeschwören. Jeder Buchstabe bringt mich dem Tode, bringt mich einem sinnerfüllten Leben einen Schritt näher.
Hatte die Hexe das womöglich damals schon erkannt? Hatte sie mir deshalb diese eine Chance geboten, doch noch Gnade zu finden?
Wir werden sehen.
Schon gleite ich zurück in eine andere Zeit, in eine ferne Welt. Folgen Sie mir, und erleben Sie, wie mit Schellenklang ein letzter Darsteller die Bühne betritt, ein später Gast auf dem Fest. Sehen Sie ihn? Den kleinen Mann mit der bläulichen Haut, der im bunten Flickenkleid seine Narrenpossen treibt?
Beobachten Sie ihn genau …
ERSTES BUCH
Der Strudel
1
Elena saß auf dem Rosenthron und musterte die sonderbare Gestalt. Ein schmächtiger Fremder in einem Anzug aus Seiden und Leinenflicken, mit einem glatten, faltenlosen Kindergesicht der ganz eindeutig älter war, als er aussah. Wie hätte er sonst so ruhig bleiben können unter den vielen Blicken im Großen Saal? Sarkastischer Spott funkelte in seinen Augen, doch dahinter sah sie auch Müdigkeit und Verbitterung. Und das leise Lächeln, das seine Lippen umspielte, war hart und kalt.
Der Mann wirkte völlig harmlos, dennoch spürte Elena in seiner Nähe ein deutliches Unbehagen.
Nun beugte er vor ihr das Knie und nahm mit schwungvoller Gebärde die Schellenkappe ab. Die unzähligen Glöckchen aus Silber, Gold und Kupfer , mit denen sein Anzug benäht war, klingelten hell.
Eine hoch gewachsene Gestalt trat neben den Fremden Prinz Tylamon Royson, Herr der im Norden gelegenen Burg Mryl. Der zum Piraten gewandelte Prinz kleidete sich gern prächtig, doch heute trug er abgewetzte Stiefel, und sein schwarzer Umhang wies Salzspuren auf. Seine Wangen waren gerötet und das sandfarbene Haar wild zerzaust. Er war erst bei Sonnenaufgang in den Inselhafen eingelaufen und hatte darauf bestanden, sofort von Elena und dem Kriegsrat empfangen zu werden.
Auch der Prinz beugte das Knie, dann wies er auf den Fremden. »Darf ich dir Harlekin Qual vorstellen? Er kommt von weither und bringt Neuigkeiten mit, die du dir anhören solltest.«
Elena forderte die beiden mit einer Handbewegung auf, sich zu erheben. »Steh auf, Prinz Tyrus. Ich heiße euch beide willkommen.« Sie sah sich den Gast, der sich nun unter neuerlichem Schellengeklirr aufrichtete, aufmerksam an. Der Mann kam wirklich von weit her. Seine Gesichtsfarbe war ungewöhnlich: auffallend blass, fast schon ins Bläuliche spielend, als würde er ersticken. Doch noch bemerkenswerter war der Schalk, der ihm, gemischt mit leiser Wehmut, aus den goldglänzenden Augen blitzte.
»Verzeih, dass ich an diesem schönen Sommermorgen schon so früh störe«, entschuldigte sich Meister Tyrus artig und zerrte an seinem fleckigen Umhang, als fiele ihm jetzt erst auf, wie wenig korrekt er gekleidet war.
Er’ril, Elenas Paladin und Gemahl, stand neben dem Thron. »Was gibt es so Dringendes, Meister Tyrus?« fragte er jetzt. »Für Possenreißer und Hanswurste haben wir hier keinen Platz.«
Elena brauchte den Präriemann vom Stamm der Standi gar nicht anzusehen, sie wusste auch so, dass er seine finsterste Miene aufgesetzt hatte. Sie kannte diesen Gesichtsausdruck inzwischen zur Genüge, denn in den letzten zwei Monden war eine wahre Flut von Katastrophen über Alasea hereingebrochen: die Versorgung der Insel wurde immer wieder durch Ungeheuer und schlechtes Wetter gestört, Städte wurden von Feuersbrünsten und Seuchen heimgesucht, und grässliche Bestien machten das Land unsicher.
Doch das war leider noch nicht alles.
Der schwerste Schlag war, dass immer mehr Elementarmagiker, jene seltenen Geschöpfe, die auf die Energie des Landes eingestimmt waren, von einer schrecklichen Krankheit befallen wurden. Bei den Mer’ai wurden die Bindungen an das Meer und an die Seedrachen zusehends schwächer. Die Elv’en Schiffe konnten nicht mehr so hoch und so weit fliegen wie bisher, und neuerdings berichtete Ni’lahn, die Stimme ihrer Laute verliere immer weiter an Kraft, denn die Baumseele im Inneren des Instrumentes sieche
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