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Alasea 05 - Das Buch der Entscheidung

Alasea 05 - Das Buch der Entscheidung

Titel: Alasea 05 - Das Buch der Entscheidung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: James Clemens
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weißen Blümchen. Um die Hartriegelbüsche schwebten dichte Wolken abfallender Blütenblätter. An den sauber gestutzten Büschen zu beiden Seiten der weißen Kieswege prangten rote Beeren. Am prächtigsten waren die vielen hundert Rosenbüsche, die vergangenen Herbst neu gepflanzt worden waren und jetzt in einem wahren Farbenrausch aus zartem Rosa, tiefem Purpur und sattem Honiggelb erstrahlten. Ihr süßer Duft verlieh sogar den Meeresbrisen noch Farbe und Gewicht.
    Doch nicht allein die Schönheit hielt die Nyphai hier draußen fest. Nur in diesem Hof waren ihre Vergangenheit, ihre Gegenwart und ihre Zukunft an einem Ort versammelt: die Laute mit dem Herzen ihres Geliebten, der Schössling aus dem Samen ihres Gefährten und der kleine Junge, auf dem alle Hoffnungen des Nyphai Volkes ruhten.
    Mit einem Seufzer fuhr Ni’lahn ihrem Jungen durch die dichten, sonnengebleichten Locken, bevor sie ihn an die Hand nahm. So viel Hoffnung in einem so kleinen Gefäß.
    Scheschon fasste nach Rodrickos anderer Hand. Das De’rendi Mädchen mit den Schwimmhäuten war ein Bindeglied zwischen den seefahrenden Blutreitern und den meeresbewohnenden Mer’ai. Rodricko ließ sich bereitwillig von ihr führen. In den letzten Monden waren die beiden in ihrer Art einmaligen Kinder so gut wie unzertrennlich geworden.
    »Wir sehen nach, wie weit sie in der Küche sind«, wiederholte Ni’lahn.
    Sie wollte gehen, aber Rodricko schien Wurzeln geschlagen zu haben. »Mama, was ist mit dem Knospenlied? Du hast mir versprochen, dass ich es versuchen darf.«
    Ni’lahn setzte zum Widerspruch an. Sie wollte wissen, was sich im Hafen ereignet hatte, doch die Alarmglocken verklangen schon wieder.
    »Du hast es versprochen«, drängte Rodricko.
    Ni’lahn runzelte die Stirn und betrachtete den Baum. Sie hatte es tatsächlich versprochen. Es war an der Zeit, dass der Junge sein eigenes Lied fand, aber sie zögerte, denn sie war noch nicht bereit, ihn loszulassen.
    »Ich bin alt genug. Und heute Nacht ist Vollmond!«
    Dagegen gab es nichts zu sagen. Bei den Nyphai war es Tradition, dass die Kinder zum ersten Sommervollmond die Bindung mit ihrem Baum eingingen und Säugling und Same zu Frau und Baum wurden.
    »Glaubst du denn wirklich, dass du schon so weit bist, Rodricko?«
    »Er ist so weit«, antwortete Scheschon. Aus ihren kleinen Augen sprach eine Sicherheit, die Ni’lahn überraschte. Sie hatte allerdings gehört, das Kind sei reich an Meeres Magik, es verfüge über die Rajor Maga, wie man bei den De’rendi sagte, und könne über den Horizont in die Zukunft sehen.
    »Bitte, Mama«, bettelte Rodricko.
    Die Glocken im Hafen waren verstummt.
    »Du darfst dich an dem Knospengesang versuchen. Aber danach müssen wir schleunigst in die Küche, sonst wird der Koch noch böse.«
    Rodrickos Gesicht hellte sich auf. Er wandte sich an Scheschon. »Komm mit. Ich muss mich vorbereiten.«
    Scheschon, die eine eher sachliche Einstellung zu den Dingen hatte, runzelte die Stirn. »Wenn wir fertig sein wollen, bevor die Küche schließt, musst du dich beeilen.«
    Ni’lahn nickte. »Fang an, aber sei nicht enttäuscht, wenn es nicht klappt. Vielleicht nächsten Sommer …«
    Rodricko nickte, doch sie sah ihm an, dass er kein Wort gehört hatte. Er ging auf den Baum zu und kniete vor ihm nieder. Seine Beine waren kaum dicker als die Äste. Die Stunde der Entscheidung war gekommen. Entweder fügten sich die verschiedenen Schicksale zu einem Ganzen zusammen, oder alles löste sich in Chaos auf, denn Rodricko war die erste männliche Nyphai. Baum und Kind waren einmalig, sie waren aus der Vereinigung von Ni’lahns Baum mit dem kranken Grim Geist Cäcilia entstanden, und ob die alten Rituale, Lieder und Wachstumsstrukturen für ihn noch Gültigkeit hatten, wusste niemand.
    Ni’lahn hielt den Atem an.
    Rodricko berührte die Rinde des Baumes und ritzte mit dem Fingernagel die dünne Außenschicht. Ein Tröpfchen Saft trat aus, und das Baumlied, ein tiefes Summen, wurde höher und suchte nach Rodricko. Ni’lahn lauschte mit Ohr und Herz. Wenn der Junge auf das Lied nicht eingestimmt war, stand ihm eine Abfuhr bevor. Sie wusste nicht einmal, was ihr lieber wäre. Fast wünschte sie sich sogar, dass er versagte. Die Zeit, die sie mit ihm verbracht hatte, war so kurz gewesen, nicht einmal ein ganzer Winter …
    Rodricko stach sich mit einem Rosendorn in die Fingerkuppe und streckte den Finger aus, um sein Blut mit dem Saft zu vermischen.
    »Sing«, flüsterte

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